Eine „Künderin neuer ästhetischer, künstlerischer, kultischer, ethischer Forderungen“ Die Orgel im Denken Hugo Distiers* Stephan A. Reinke usgesprochen eng ist der Name Hugo Disder mit seiner Chormusik verbunden. Als Verfasser unter anderem des Jahrkreises (op. 5), des Mörike-Chorliederbuches (op. 19), der Geistlichen Chormusik (op. 12), zahlreicher kleiner liturgischer Sätze und des Neuen Chorliederbu ches (op. 17) war Disder bereits zu Lebzeiten ein respektierter Komponist und ist bis in die Gegenwart hinein zumindest in (kirchen-)musikalisch interessierten Kreisen mit den genann ten Werken - mehr oder weniger - verbreitet. Durchaus anders stellt sich dies im Fall seiner Orgelmusik dar. Sie steht im Schatten seines Vokalschaffens, spielt für die gegenwärtige Re zeption seiner Künstlerpersönlichkeit allenfalls eine Nebenrolle. Ein Umstand, der selbst für so groß angelegte und ambitionierte Kompositionen wie die beiden Partiten op. 8 über „Nun komm, der Heiden Heiland“ und „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ aus Distiers Lübecker oder auch die Sonate op. 18,2 aus seiner Stuttgarter Zeit gilt. Neben diesen Hauptwerken um fasst das Orgelschaffen Disders noch einzelne kleinere Gelegenheitsstücke, eine Reihe Cho ralvorspiele (op. 8,3), eine Sammlung für die Kleinorgel (op. 18,1), einige Studienwerke und weniges mehr 1 . Tatsächlich also ein überschaubares Gesamtwerk, das zumindest in quantitativer Hinsicht keinen Grund dafür bietet, in Hugo Distier jemand anderen als einen der führenden Reprä sentanten der Chormusik der 1930er Jahre zu sehen. Ein genauerer Blick jedoch zeigt, dass es sich bei der Beschäftigung Distiers mit der Orgel um weit mehr als ein Nebengleis seines künstlerischen Tuns handelte. Vielmehr gestaltete sie sich so vielfältig, dass sie nicht unbe rücksichtigt bleiben darf, wenn man Distier als Mensch und Künstler gerecht werden möchte. Seine Orgelmusik offenbart Facetten seines Denkens, die sich aus seinem Vokalwerk nicht oder nur in Ansätzen ableiten lassen. Gleichzeitig zeigt sich Distier in der Auseinanderset zung mit der Orgel auf eine sehr persönliche Weise. Viele seiner Äußerungen deuten darauf hin, dass die Orgel ebenso wie die (kompositorische) Beschäftigung mit ihr Ruhepunkt und Kraftquell für ihn war. So schrieb er etwa an seinen Lübecker Weggefährten Axel W'erner Kühl zu einem Zeitpunkt, an dem er sich als Hochschullehrer und Domkantor in Berlin durchaus auf dem Höhepunkt seiner Karriere befand, dass er sich „als schönstes in der W'elt [...] irgendwo einen Organistenposten an möglichst geruhsamer Stelle“ erträume, der ihm * Der nachfolgende Text konzentriert sich auf die publizistischen Äußerungen Disders in Bezug auf die Or gel. Ein Nachweis, wie sich diese in seinen Kompositionen konkret widerspiegeln, erfolgt an dieser Stelle nicht. Der interessierte Leser sei daher auf eine umfangreiche Publikation des Verfassers zu dieser Frage stellung hingewiesen, die voraussichtlich 2010 erscheinen wird. Viele der im Folgenden lediglich angerisse nen Gedanken werden dort in der notwendigen Ausführlichkeit behandelt. 1 Ein vollständiges Verzeichnis der Orgelwerke Distiers findet sich u.a. bei Winfried Lüdemann, Hugo Distier. Eine musikalische Biographie, Augsburg 2002, S. 451 ff.