Musik und Rhetorik im Barock von ARNO FORCHERT Im Jahr 1908 veröffentlichte Arnold Schering im Kirchenmusikalischen Jahrbuch einen Auf satz mit dem Titel Die Lehre von den musikalischen Figuren 1 . Darin vertrat er die Ansicht, daß es im Zeitraum etwa vom 16. bis weit ins 18. Jahrhundert hinein außerordentlich enge Beziehungen zwischen der Kunstlehre der Musik und der der Rhetorik gegeben habe, Beziehungen, aus denen im musiktheoretischen Schrifttum um und nach 1600 eine Doktrin, die musikalisch-rhetorische Figurenlehre, hervorgegangen sei, die dann als Teil der allgemeinen Kompositionslehre rund anderthalb Jahrhunderte lang kontinuierlich tradiert wurde. Sein Aufsatz gipfelte in der Auffor derung, „die Lehre von den musikalischen Figuren geschichtlich zu fundieren, sie in ihren Einzel heiten darzustellen und die Beobachtung ihrer Regeln in der Praxis der Komposition nach zuweisen' 2 . Scherings Anregung fiel auf fruchtbaren Boden. Und so hat es denn in den letzten fünfzig Jahren eine Vielzahl von Untersuchungen gegeben, in denen nicht nur musiktheoretische Traktate, sondern auch die Werke von Meistern wie Josquin Desprez, Lasso, Schütz und vor allem Bach unter dem Aspekt des Fortwirkens dieser musikalisch-rhetorischen Tradition betrachtet und analysiert worden sind 3 . Dieser kurze Blick zurück auf die Geschichte musikwissenschaftlicher Beschäftigung mit Fragen des Verhältnisses von Musik und Rhetorik ist vor allem deshalb von Interesse, weil aus ihm hervorgeht, daß hier ein Thema von der Musikwissenschaft bereits zu einem Zeitpunkt auf gegriffen wurde, als es die literaturgeschichtlichen Disziplinen, soweit sie sich mit dem 17. und 18. Jahrhundert beschäftigten, noch nicht für sich entdeckt hatten. Der Literaturwissenschaftler Wilfried Bamer, der 19 70 eine Arbeit zur Rhetorik des Barock veröffentlichte 4 , empfand es denn auch geradezu als eine Kuriosität, daß „die Musikwissenschaft noch vor der literarischen Barockforschung die rhetorische Theorie auf breiter Grundlage" in ihre Untersuchungen einbe zogen hatte. Und seine mit dem Hinweis auf Arnold Schering und die durch ihn angeregten Arbeiten verbundene Feststellung, daß inzwischen „die Berücksichtigung der Rhetorik (insbe sondere der Figurenlehre und der Inventionstechnik, aber auch etwa der Affektenlehre) zum methodischen Grundbestand bei der Erforschung der Barockmusik und ihrer Theorie" gehöre 5 , war offenbar als eine Mahnung an seine Fachkollegen zu verstehen, sich das Vorgehen der Musikwissenschaft zum Vorbild zu nehmen. Gehört aber die Betrachtung der Barockmusik unter dem Gesichtspunkt rhetorischer Ver fahrensweisen tatsächlich zum gesicherten Bestand musikwissenschaftlicher Untersuchungs methoden? Die Antwort auf diese Frage ist, so scheint es, zunehmend schwieriger geworden. 1 Arnold Schering, Die Lehre von den musikalischen Figuren, in: KmJb 21 (1908), S. 106-114. 2 Ebenda, S. 114. 3 Vgl. den bibliographischen Überblick von George ]. Buelow, Music, Rhetoric, and the concept of the affections: a selective Bibliography, in: Notes 30 (1973/74), S. 250 ff., sowie seinen Artikel Rhetoric and Music, in: New GroveD, Bd. 15, S. 802 f. 4 Wilfried Barner, Barockrhetorik - Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970. 5 Ebenda, S. 50.