Die erste Fassung des Beckerschen Psalters von Heinrich Schütz von WERNER BREIG tdith Weber zum 31. Oktober 1985 A. Der Becker-Psalter in der Urfassung von 1628: ein unbekanntes Werk von Schütz (Vortrag Bremen 1984) Es gibt verschiedene Gründe, aus denen Werke von Heinrich Schütz zeitweise in die Unbe kanntheit versunken sind, und es gibt verschiedene Wege, auf denen man wieder auf sie stoßen kann. Auch in neuerer Zeit kommen gelegentlich noch unwahrscheinliche Wiederentdeckun gen unter (man möchte fast sagen:) „klassischen" Umständen vor. So wurden vor einigen Jahren die jahrzehntelang von allen Schütz-Forschern schmerzlich vermißten Stimmen von Schützens großem Alterswerk, dem 119. Psalm, in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden wiederge funden 1 . Und in einer Thüringischen Dorfkirche wurde vor kurzem bei Umbauarbeiten ein Notenschrank mit wertvollsten Musikalien aus dem 17. und 18. Jahrhundert freigelegt; er stand in einem Raum, der im 18. Jahrhundert zugemauert worden war 2 . Ich gestehe, daß ich jene Forscher ein wenig beneide, die die Beschreibung ihrer Funde mit Entdeckungsberichten einleiten können, die einen Hauch von Detektivgeschichte haben. Denn ich muß selbst auf eine solche spannende Erzählung verzichten. Das Werk, mit dem ich Sie heute bekannt machen möchte, ist nämlich ein gedrucktes Opus von Schütz, das in der Schütz-Litera tur genannt wird, in Katalogen und Bibliographien nachzuschlagen ist und von dessen zwei Auflagen von 1628 und 1640 heute in Bibliotheken noch über 20 Exemplare nachweisbar sind. Mit welchem Recht darf man es aber dann als „unbekannt" bezeichnen? Nun, es ist de facto unbekannt, weil es in keinem Neudruck vorliegt, nach dem man sich mit ihm bekannt machen, es analysieren oder daraus singen könnte. Doch wie ist es möglich, daß ein Druckwerk von Heinrich Schütz, von dessen musikalischem Oeuvre doch bereits in den Jahren 1885 bis 1894 eine Gesamtausgabe veranstaltet wurde, derart ins Abseits geriet? Schuld daran ist, wenn man so will, Heinrich Schütz selbst, bzw. Kurfürst Johann Georg II., der Schütz damit beauftragte, die Erstfassung des Becker-Psalters durch eine Neufassung zu ersetzen. Damit sind wie bei der Entstehungsgeschichte des Becker-Psalters, über die nun einiges mitge teilt werden muß. (Ich beschränke mich dabei auf die für unseren Zusammenhang wichtigsten Fakten; ausführlicher kann man sich unterrichten etwa aus den Schütz-Monographien von 1 Das Werk wurde inzwischen von Wolfram Steude ergänzt und herausgegeben (NSA 39). Vgl. auch Wolfram Steude, Das wiedergefundene Opus ultimum von Heinrich Schütz - Bemerkungen zur Quelle und zum Werk, in: SJb 4/5 (1982/83), S. 9 ff. 2 Hans Rudolf Jung (Weimar) berichtete über diesen Fund in seinem Referat Zur Pflege der Figuralmusik in einigen thüringischen Dörfern während der Bachzeit im Rahmen des Wissenschaftlichen Kolloquiums „Johann Sebastian Bachs Traditionsraum", Leipzig 1983. 22