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— 170 chens Wundwatte, einer kleinen Quantität englischen Pflasters und einer gestärkten Gazebinde. Kommen hiezu noch einige kleine, ca. 5 ccm haltende Fläsch chen für Baldriantinktur, Choleratropfen, Rhabarber wein, Hofimannstropfen und eines geruchlosen Pulvers, welches auf grössere Wundflächen gestreut wird — ich halte das «Airol» für das zweckentsprechendste — so ist die Reiseapotheke des R.adlers hinreichend gefüllt, um für alle Eventualitäten der Tour gerüstet zu sein: was darüber ist, das ist vom Uebel. Wer sich als Radler über Knochenbrüche, Zerschmet terungen etc. unterrichten will, findet in den zahl reichen Leitfäden, die über die «erste Hülfe bei Unglücksfällen» erschienen sind, ausreichende Be lehrung: in ein Radfahrwerk gehören sie nicht hinein. Dagegen bedarf eine Gefahr, welcher das Damen rad speciell ausgesetzt ist, einer kurzen Besprechung. Durch seinen offenen Rahmenbau fehlt dem Damen rade die richtige Stütze des horizontalenRohres. Um daher vor einem Verunglücken durch plötzlichen Rahmenbruch in voller Fahrt oder beim Passieren von Rinnen, Unebenheiten etc. gesichert zu sein, sehe man bei der Wahl einer Damenmaschine weniger auf leichtes Gewicht derselben, als vielmehr auf festen Bau und darauf, dass die Rohrverbindung zwischen Vordergabelrohr und Sattelstützrohr eine gerade und doppelte ist. Nicht die leichteste, sondern die bruchfesteste Maschine ist die beste, zumal Damen ihr Körpergewicht mehr im Sattel ruhen lassen, als, Herren, die gewöhnt sind, Stösse, die durch schlechten Weg verursacht sind, durch Stehen in den Pedalen unschädlich zu machen. Neue Räder mit U förmig gebogenem einfachem Rohr sollten Damen von schwe rerem Gewicht nicht besteigen. Unter Befolgung obiger hygienischer Grundsätze stellt der Radsport für den Gesunden jeden Alters und jeden Geschlechts eine für Körper und Geist gleich heilsame Gymnastik dar, welcher wir keine andere Art von Gymnastik gleichwertig an die Seite stellen können. Ihre allgemeine Einführung in die medico-mechanischen Heilmethoden ist nur eine Frage der Zeit. Die Erfolge, welche ich per sönlich in der vorsichtigen, methodischen Anwendung der Zwei- und Dreiradgymnastik bei gichtischen und sonstigen chronischen Gelenksteifigkeiten der unteren Extremitäten gesehen habe, sind so eklatanter Natur, dass sie diejenigen der Zander-Apparate bei weitem übertreffen, zumal die Radgymnastik allein den Vorzug hat, stets an die frische Luft ge bunden zu sein, niemals langweilig zu wer den und eine fast noch grössere geistige als körperliche Erfrischung und Anregung zu geben. Aus diesem Grunde ist bei geistiger Ueber- arbeitung, allgemeiner Nervosität, melancholischen Verstimmungen, überhaupt leichteren Gehirn- und Rückenmarkserkrankungen die Wirkung der unter ärztlicher Aufsicht betriebenen, der Individualität des Falles in ihrer Stärke sorgfältig angepassten Rad gymnastik eine ganz überraschende. Die dabei statt findende Erhöhung des Stoffwechsels und Verbesserung der Blutmischung giebt die dritte Richtung an, in welcher die Ausübung der Radgymnastik segensreich wirken muss: bei allen auf allgemeinen krank haften Veränderungen der Körpersäfte beruhenden Er krankungen, den sogen. Dyskrasien oder Diathesen; hierher gehören vor allem die Krankheitsgruppen der Blutarmut, der Bleichsucht, der Skrophulose, der harnsauren Diathese. Aus der den Blutstrom vom Becken ableitenden Wirkung der Radgymnastik erklären sich endlich viertens naturgemäss die that- sächlich beobachteten günstigen Beeinflussungen von Blasenleiden und einer Reihe von Unterleibsleiden der Frauen. Allerdings ist bei jedem Gebrauche des Rades zu Heilzwecken der Rat und die fortgesetzte Beauf sichtigung der Kur seitens eines in der medico-mecha nischen Behandlungs - Methode im allgemeinen und speciell im Radfahren nach allen Richtungen gründlich versierten Arztes unerlässlich. Nur so können die richtigen Fälle ausgesucht und sowohl schädliche Ueber- treibung wie ungerechtfertigte Entmutigung und vor schnelles Aufgeben der Kur verhütet werden. Zu letzterem sind natürlich Patienten leicht geneigt, wenn nach jahrelangem Aufenthalt im Rollstuhl selbst bei vorsichtigster Aufnahme der gänzlich ungewohnten Gymnastik Schmerzen in den Muskeln und vor allem in den durch rheumatische Erkrankungen und lang jährige Inaktivität steif gewordenen Gelenken auftreten. Gerade in solchen Fällen leistet das Dreirad, wenn es mit bequemem Sitz, Rückenlehne und mit ver stellbaren oder ganz kurzen Pedalkurbeln versehen wird, Erstaunliches, so dass der lebensmüde, an Krücken gehende, dem Muskelschwund und allge meiner fettiger Entartung verfallene, auf den guten Willen seines Dieners angewiesene Rollstuhlfahrer sich in wenigen Monaten in einen lebensfreudig die Welt durchstreifenden Radler umwandeln kann, der mit dem Rollstuhl gleichzeitig die früher unentbehr lichen, verweichlichenden und den Körper immer mehr für Rückfälle empfänglich machenden wollenen Decken und warmen Polster verlassen hat und so aus einem sich selbst und anderen zur Last fallenden Krüppel wieder ein selbständiges, thatkräftiges Glied der menschlichen Gesellschaft geworden ist. — Zu vermeiden ist das Radfahren nach meinen Erfahrungen nur da, wo durch Verwachsung desLungen- und Rippenfells, wie sie nach Brustfellentzündung ein- treten kann, oder durch knöcherne Unnachgiebigkeit des Brustkorbes die vertiefte Atmung unmöglich gemacht worden ist, deren Möglichkeit die Vor bedingung für jede Ausübung des Radsports ist. Fassen wir die Einwirkung der Radgymnastik auf Gesunde und Kranke kurz zusammen, so kann dies in dem Satze geschehen: dass sie eine Ver jüngung und Potenzierung der körperlichen und geistigen Kräfte seiner Anhänger zur Folge hat.