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XIV. Die Fahrradindustrie und die zugewandten Geschäftszweige in den Ländern deutscher Zunge. Von Ingenieur R. Ritter von Paller — München. \ V\ im Zeitalter des Verkehrs. ■A A Wie wahr und zutreffend passt dieser M AusspruchaufdieVerhältnisseunseres ^\ aOfl r lastenden Jahrhunderts! In welchen Xjyjjjy/' Dimensionen hat der geistige und MyJJLj J— physische Verkehr unserer letzten Iw**"" Jahrzehnte zugenommen! Wie ver- grösserten sich die Geschwindigkeiten bei der Ab wicklung desselben! Wenige Minuten genügen, um unsere Wünsche und Gedanken von einem Erdteil zum anderen zu übermitteln, mit Hilfe des Telegraphs. Unsere Stimme, in ihrer Klangfarbe genau erkenntlich, können wir fast momentan Hunderte von Kilometer ■deutlich vernehmbar übertragen, mittelst des Telephons. Wir selbst vertrauen uns den schwimmenden Hotels, den Ozeandampfern, an und erreichen in wenigen Wochen das Meer durchquerend unsere Antipoden. Oder wir besteigen in unserem Heimatlande bei frostigem Nebel des Abends den Schlafwagen eines Expresszuges und erwachen den nächsten Morgen unter der lachenden Sonne Italiens, nachdem uns das pustende Dampfross über Nacht 700 Kilometer weit südwärts gebracht hat. Alle diese Kommunikationsmittel beruhen auf der Ausnützung geheimnisvoller Naturkräfte, der Anwen dung von Elektricität, dem Gebrauch der Dampfkraft. Im letzten Jahrzehnte hat sich jedoch ein be scheidenes Ding, mit Hilfe dessen sich der Mensch durch seine eigene Muskelkraft allein vorwärts bewegen kann, zum Weltverkehrsmittel emporgeschwungen, es ist dies unser gummibereiftes, auf Kugeln laufendes F ahrrad. Vor 50 Jahren brauchte der Schnelläufer mehr als eine Woche, um von Wien nach Berlin zu mar schieren. Heute legt der Distanzfahrer diese Strecke in 30 Stunden zurück. Selbst vor 10 Jahren dachte noch niemand daran, dass ein Rennfahrer mehr als 50 Kilometer in einer Stunde leisten werde. Heute gehört es zu keiner Seltenheit mehr, dass ein geübter Fahrer mit einem Personenzuge mehrere Stationen weit in gleichem. Tempo fährt. Mit der fortschreitenden Verbesserung und er höhten Leistungsfähigkeit hat sich das Fahrrad in immer weiteren Volkskreisen eingebürgert. Im Jahre 1880 gab es kaum etliche Tausend Radfahrer, heut zutage zählt man deren mehrere Millionen. Das Fahrrad, das vorerst nur ein Sportsartikel war, ist zu einem der wichtigsten und volkstümlichsten Verkehrs mittel geworden. Seine Verbreitung nimmt in stets steigendem Masse zu und wenn es auch voraussichtlich noch technische Umwandlungen mitzumachen hat, so wird es doch seine einmal errungene Stellung im Weltverkehre behaupten. James Starley, der Gründer der englischen Fahrradindustrie, prophezeite auf seinem Totenbette: „So lange die Menschheit Arme und Beine rühren kann, hört das Radfahren nicht auf!“ Der Verbrauch an Fahrrädern wächst von Jahr zu Jahr ganz bedeutend. Mit ihm Hand in Hand geht das Emporblühen der Fahrradindustrie. Die Ge samtproduktion von Fahrrädern auf dem Weltmärkte dürfte diese Saison (d.i. Oktober 1896 bisOktober 1897) fast 2 Millionen Stück betragen. An der Spitze stehen die Vereinigten Staaten Nordamerikas mit einer Produktionsziffer von ca. 900,000 Stück. Den nächsten Platz erreicht Grossbritannien mit rund 500.000 Stück jährlich. An dritter Stelle steht Deutschland, welches in dieser Saison über 350.000 Stück Fahrräder produziert. Frankreich dürfte 90,000 Stück, Oesterreich -Ungarn 60.000 Stück herstellen. Belgien, Holland, Schweiz, Italien, Russland, Norwegen und Schweden sind mit geringeren Produktionsziffern interessiert. Von anderen Kontinenten wären die britischen Kolonien und vor allen Japan an der Fahrradfabrikation teilnehmend zu nennen. Zur Fabrikation dieser 2 Millionen Fahr räder werden 11,000 km Stahlrohr, 300 Millionen Stahlkugeln und, wenn man die Pneumatikschläuche der Länge nach messen wollte, 8000 km von solchen benötigt. Die Fahrradindustrie mit der Erzeugung des Rohmateriales und des Fahrradzubehöres, mit ihren stammverwandten und durch sie selbst bedingten Nebenindustrien beschäftigt auf allen Erdteilen zu sammen sicherlich l / 2 Million Menschen, viele tausende von Pferdekräften und Hilfsmaschinen. Das Gesamt- Betriebskapital auch nur annähernd zu konstatieren, wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Die Geburtsstätte der Fahrradindustrie liegt in England. Coventry brachte die ersten Fahrräder aus Weldlessstahlrohr mit Gummireifen und Kugel lagern ausgestattet zur Welt, Birmingham hin gegen war jahrelang für die Erzeugung von Fahrrad rohmaterial und Zubehör tonangebend.