Ideal der harmonischen Ausbildung aller Kräfte. Für ihn konnte Bildung irgendeine Berechtigung und einen pro duktiven Wert nur in jener griechischen Bedeutung einer Durchbildung aller Kräfte des Menschen haben, jener Durchbildung, die fast automatisch zur Steigerung seiner Leistung führt. Bildung ist ein Diener der Tat: sie ruft diese auf und hilft sie vorbereiten. Goethe hatte sich sein ganzes Leben lang um die Ausbildung seines Ichs im Sinne der Ausbildung seiner Kräfte bemüht, und fast jeder Augen blick seines Daseins war von diesem Streben durchdrungen. Schon der Wahlspruch seiner frühen Jugend war es: »Wir müssen nicht sein, sondern alles werden wollen.« So legte er das große Bekenntnis ab: »Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.« Solcher Ausbildung und Fortbildung hat Goethe noch einen anderen unvergäng lichen Ausdruck gegeben: »Man muß sehen, wohin seine Neigungen und Wünsche gehen. So dann muß man ihn in die Lage versetzen, jene sobald als möglich zu befriedigen, diese sobald als möglich zu erreichen, damit der Mensch, wenn er sich geirrt habe, früh genug seinen Irrtum gewahr werde, und wenn er das getroffen hat, was zu ihm paßt, desto eifriger daran halte und sich desto emsiger fortbilde.« Für Goethe gab es nur ein Signum wahrer Bildung, daß nämlich »in jedem Menschen die Tat geweckt und auf alle Weise gefördert werde«, wie sein Biograph Chamberlein trefflich bemerkt. Goethe begründete eine Abweisung ein mal mit den Worten: »Ich weise sie daher ab und ignoriere sie, denn sie können mich nicht fördern, und das ist’s, worauf im Leben alles ankommt.« - »Es kommt immer wieder darauf an«, bekannte Goethe später, »daß der jenige, von dem wir lernen wollen, unserer Natur gemäß sei. Überall lernt man nur von dem, den man liebt.« Ein andermal: »Man sollte eigentlich immer nur das lesen, was man bewundert.« Goethe hat uns die große Lehre gegeben, nur zu der jenigen geistigen Nahrung zu greifen, die dem Ich gemäß