SCHICKSAL UND ZUFALL Im Herbst 1822 war Wilhelmine Schröder nach Dresden ver pflichtet worden, zuerst gastweise, dann, am 1. April 1823, dauernd, mit ihren achtzehn Jahren ein voll erblühtes Weib, dem das Leben fast nichts mehr zu erfüllen hatte. Am Beginn von Wilhelmines Bühnenlaufbahn steht das Erlebnis, an dem sie wie in plötzlicher Erleuchtung seelisch reifen sollte: die Darstellung der Leonore in der Wiener Fidelio-Aufführung vom Jahre 1822. Beethoven, zuerst entrüstet, hatte dem Wagnis dann selbst seinen Segen gegeben. Der Schritt von der Leonore zur Agathe war für Wilhelmine ein Zurück zur Natur, zu ihrer eigentlichen lyrisch heroischen Natur, für die das Format der großen Tragödin denn doch noch eine Überspannung bedeutet hatte. Wilhelmine sang in Dresden zuerst im Theater auf dem Linckeschen Bad die Emme- line in Weigls Schweizerfamilie. Sie verwirrte durch ihre sinnliche Blondheit, durch die ganze Frühreife ihrer Erscheinung die Men schen in einem unvorstellbaren Maße. Schon am Tage nach diesem Erstauftreten am 23. September 1822 stand sie als Agathe auf der Bühne des Komödienhauses. Weber dirigierte natürlich, und das Zusammenwirken der beiden hob die Aufführung hoch über den Alltag hinauf. Um diese Zeit sehen Friedrich und Caroline de la Motte Fouque Wilhelmine als Agathe und finden sie „oft unbe schreiblich ergreifend“. In den „Reiseerinnerungen“ (1823) spenden beide abwechselnd der Mamsell Schröder hohes Lob: „Und das wollte bei mir absonderlich viel sagen, da ich von Berlin her eine Freischützbraut kenne, die den Zauber der Nachtigall mit dem zarten Glanz einer Blume verbindet. Hier war Vieles anders, aber auch hier Alles schön und gut. Wir glaubten oftmal, eines jener alterthümlichen, einfach schönen Bilder in’s Leben treten zu sehn, die einst an der Grenze von Deutschland und Flandern er- 229