Schluß. 537 Schluß. So find wir denn hart an die Schwelle der Gegenwart herangerückt und haben gewaltige Ereignisse berührt, die noch frisch in unserem Gedächtnis leben. Es waren bedeutungsvolle, tiefbewegte Jahre, die wir soeben in ihrem geschichtlichen Gange vorübergeführt, Jahre, in denen viele treibende Kräfte an dm Tag getreten, manche hohe Güter, wmn auch noch nicht völlig errungen, so doch als Kampfpreise und Strebeziele aufgestellt worden sind. Die größten Erfolge hat das deutsche Volk er kämpft; die so lange getrennten Glieder haben sich wieder zu einem einheitlichen Ge meinwesen, zu einem Reich der Mitte vereinigt, dessen wichtigste Aufgabe die Wah rung des europäischen Friedens sein wird. Aber auch an anderen Orten find große Errungenschaften eingebracht wordm: Allenthalben wurden die Fesseln der Knecht schaft gelöst. Mit sicher leitmdem Trieb fordern die Völker die Niederreißung der Schranken, welche bisher das Handels- und Verkehrsleben in seinem Laufe gehemmt, die Erschließung ferner Länder gehindert, welche die Geburts- und Berufsstände ge schieden, welche der Niederlassung und Freizügigkeit im Wege gestanden, welche die bürgerlichen Rechte von der Geburt und vom Glaubensbekenntnis abhängig machten. Die Zeit des Weltverkehrs mittels Dampfkraft und elektrischer Drahtleitung führte zu einem neum Weltbürgertum, aber von praktischer Natur und realm Zielen. Ein Trieb zur Selbstbestimmung und zur Selbsthilfe durchzieht das Völkerleben. Er giebt sich kund in dem freim genossenschaftlichen Vereinswesen, in der Mitwirkung der Volksvertreter bei der Gesetzgebung, in der Teilnahme der Laim an der Rechtspflege. Und wmn auch unter dem Schutze dieses freim Vereins- und Gesellschaftslebms der vierte Stand mit heftiger Begehrlichkeit nach social-demokratischen Staats- und Gesellschastseinrichtungen drängt, durch welche das bestehende Kultur- und Rechts- lebm dem Umsturz mtgegengeführt, die Freiheit des einzelnen unter dem Banne despotischer Genossmschaftsvorschriften ausgelöscht würde; so werden die mittleren bürgerlichen Klassen stark gmug sein, die wühlerischen elementaren Gewalten in die gesetzlichen Schranken einer gesitteten Staats- und Gesellschaftsordnung zu weisen und dm Fortschritt menschlicher Kultur gegm zerstörende revolutionäre Kräfte zu schirmen. So sehm wir in allen Gebieten eine rastlose fruchtbare Thätigkeit; und wmn auch das Leben mit seinm gebieterischen Ansprüchen die Geister mehr auf die praktische Seite hinzog, wenn die Naturwissenschaften, wenn die Volkswirtschafts lehre, wmn die Staats- und Rechtskunde mit Vorliebe gepflegt und ausgebildet wurden; so entbehrten doch auch die Geisteswissenschaften und die Künste nicht der Teilnahme und eines eifrigen Studiums: noch immer gießt die Poesie ihre goldenen Früchte in die empfänglichen Gemüter; noch immer labt die Kunst durch edle Ge staltungen dm Schönheitssinn; noch immer führt die Historie die Thaten und Schick sale vergangener Völker dm lebenden Geschlechtern vor die Seele; noch immer ist der Forschungstrieb auf das Wesm der Religion und die Grundlagen der Kirche gerichtet; noch immer lehrt das Christentum Tugend, Sittlichkeit und Nächstenliebe, veredelt das Wirken und Schaffen des Tages durch ideale Ziele und reine Pflichtenlehre, ver söhnt und tröstet dm Leidenden durch den Glauben an die göttliche Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, durch die Hoffnung auf ein besseres Lebm über dem Grabe.