GESCHICHTE UND DOGMA Die Kirche stand mitten inne zwischen Verhei ßung und Gericht. Gegenüber dem Judentum mußte sie in Zukunft ihre Zukunft erkämpfen, indem sie die Vergangenheit als Verheißung ihrer Gegenwart deutete. Gegenüber der Gno sis mußte sie ihre Einmaligkeit erkämpfen, in dem sie die Gegenwart als entscheidenden Au genblick der Gestaltung festhielt. Gegenüber dem Montanismus mußte sie ihre Vorläufigkeit erkämpfen, indem sie die Zukunft auf Kosten der Gegenwart vorwegzunehmen ablehnte. Der Montanismus erneuerte die urchristliche, nun in dieser Form schon nicht mehr berech tigte eschatologische Erwartung. In Montanus, glaubte er, sei der Paraklet erschienen und ge be nun in dem Spruche der neuen Propheten und Prophetinnen eine dritte Offenbarung, die beide vorhergegangenen, Alten und Neuen Bund entkräfte. Inhalt der Offenbarung aber war eben die Eschatologie: die Gläubigen sollten sich in Pepuza in Phrygien versammeln in Er wartung des Weltgerichts. Angesichts dieses Weltgerichts verging der Sinn für die Vorläu figkeiten dieses Lebens, »Kultur« in jeder Form wurde verdächtig und die höchste sittliche For-