EINLEITUNG PHILOSOPHISCHE VORBESINNUNG: VOM SINN HISTORISCHEN VERSTEHENS europäisches geschichtsempfinden ist immer ein Suchen gewesen nach dem Verstehen des eigenen Menschseins in der Situation seiner Gegenwart aus dem, was diese Gegen wart und sein Sein in ihr bestimmt. Das Bewußtsein des Menschen von seinem Menschsein ist kein unreflektiertes Hinnehmen seiner Existenz noch ein selbstverständliches Sichüberlassen an den Augenblick seines Daseins. Der euro päische Mensch weiß, daß er nicht bloß da ist, sondern daß sein Da-sein ein solches in einer bestimmten Zeit ist. Er hat ein Bewußtsein von sich als in der Zeit stehendem Dasein. Ist dieses Bewußtsein erwacht, dann weiß der Mensch um seine Grenze nach Vergangenheit und Zukunft, dann emp findet er seine eigene Existenz und deren eigene Gegenwart als etwas, was gespannt ist zwischen dem, was war, und dem, was sein wird. Dann ist aber das Vergangene nicht das schlechthin Vorübergegangene, wie auch die Zukunft nicht ist das schlechthin erst Kommende, ein zu dem, was ist, in keiner Beziehung Stehendes: Vielmehr wirkt das, was war, in die Gegenwart hinein und erstreckt sich diese immer schon zur Zukunft hin. Das ist dann paradox, wenn die Zeit nur verstanden wird als die Aneinanderreihung von einzelnen Zeitpunkten. Denn dann ist der vorübergegan gene Punkt nicht mehr, und der folgende ist noch nicht. Wenn aber die Zeit ein Kontinuum ist, in dem jeder Augen blick den vergangenen nicht nur ablöst, sondern in sich birgt und selbst schon trächtig ist des kommenden, dann ist Vergangenheit nicht nur das Verflossene, sondern das im Moment der Gegenwart Aufbewahrte, das von ihr - nach Hegels tiefem Wort — Er-innerte, das ihr selbst innerlich Gewordene. Und dann ist Zukunft nicht einfach das Fol gende, sondern das jetzt schon wirklich Werdende.