ERSTER TEIL VERSUCH EINER WESENSBESTIMMUNG DES CHRISTLICHEN MITTELALTERS 1 Mittelalter — Europa — Abendland unsere philosophische Vorerörterung führte zu dem Er gebnis: Die Gegenwart, die die Verbindung preisgibt mit dem Vergangenen,, das nicht tot ist, sondern, selbst gegen wärtig, in sie hinein wirkt, vernichtet die Lebenswurzeln, aus denen sie hervorwuchs. Bloßes Wissen aber um das Geschehene und noch Fortwirkende bleibt geschichtlich wirkungslos, wenn es nicht zugleich ein Verstehen der Stunde ist, in der Vergangenes und Gegenwärtiges sich zu einem Neuen einigen, und ein Handeln in Gemäßheit die ser Situation, aus der verantwortlichen Entscneidung tür das Vergangene und das jetzt werdende Zukünftige. So fragt es sich, ob vom Mittelalter noch ein lebendiges in die Gegenwart ausstrahlt. Aber es fragt sich zunächst, was Mittelalter und speziell »christliches Mittelalter« über haupt ist. Nach Inhalt und Umfang ist der Begriff »Mittelalter« ein unbestimmter und viel umstrittener. Dem Worte nach scheint »Mittelalter« ja nur ein Formal-Zeitliches, das man seit langem auf alle geschichtlichen Einheiten, auf die sog. Antike des Abendlandes, aber auch auf östhehe Geschichts epochen anwendet, so daß jede geschichtliche Kultur ein Altertum, ein Mittelalter, eine Neuzeit aufzuweisen hat. Doch ist mit diesem Begriff so viel gewonnen, daß man wenigstens ein Mittel zur Periodisierung einheitlich-ganz heitlicher Kulturen in ihm zur Hand hat. Der Mangel die ser Zeiteinteilung ist längst empfunden worden, und die Aussprache darüber ist nicht erst von gestern. Sie gehört selbst als ein Stück Geschichte der wissenschaftlichen Er-