IDEE UND WIRKLICHKEIT 279 Diese auf das vor dem christlichen Gewissen »höchst anfecht bare« Prinzip [Schwer] von Geburt, Macht und Besitz auf gebaute Gesellschaft hat das spätere Mittelalter nicht mehr als selbstverständlich hingenommen, und in Volkstheologie und Predigt stieg eine Ahnung davon auf, daß die christliche Menschauffassung nicht einfach das Gegebene hinnehmen könne. Und wenn auch der mittelalterliche Mensch nicht Freiheit im Sinne der Erweiterung des »individuellen Frei heitsraumes« verlangte, sondern Freiheit im Sinne der recht lich verbrieften »vorhandenen Wirksphäre«, also Achtung der von der Gesellschaft selbst anerkannten Rechte des Stan des und seiner Beziehungen zu den Herrenschichten, so hat doch der Hinweis der christlichen Predigt auf die innere Frei heit und die Gleichheit der Menschen vor Gott, jenseits aller, auch von der Kirche belassenen sozialen Standesunter schiede, dem Menschen das Bewußtsein seines inneren Wer tes geweckt und späterer »humanistischer« Auffassung vor gearbeitet. Was Franz X. Kiefl früher vom Verhältnis der urchristlichen Predigt zur wirtschaftlich-gesellschaftlichen Sklaverei zeigte: daß für sie nicht die soziale Freiheit der Sinn der Erlösung und der neuen Religion überhaupt war, sondern das über sie hinausliegende Gut der Freiheit der Kinder Gottes und einer Gleichheit der Menschen vor Gott, die keine Sklaverei rauben kann, ja die den christlichen Skla ven im Besitz einer viel höheren Freiheit zeigt als den Nicht christen — das hat auch das christliche Mittelalter nicht ver gessen. Seine Aufgabe war nicht die einer sozialen Revolu tion ; die Kirche paßte sich dem Bestehenden in weitem Maße an, obwohl die »außerordenthehen Verdienste« längst an erkannt sind, die sie sich um die Besserung des Loses der Un freien erworben hat. Eines vor allem hat die Kirche erwirkt, was historisch für die sozialen Verhältnisse bedeutsam werden mußte: das Chri stentum hat den Menschen innerlich frei zu machen gesucht und so erst die seehsche Voraussetzung dafür geschaffen, sich künftig gegen eine Gesellschaftsstruktur zu erheben, die in der Anerkennung von Geburt, Besitz und Macht als gesell-