IDEE UND WIRKLICHKEIT 291 Charakter: Die Zunft sollte jeden, der das Handwerksamt oder das Gewerberecht erlangte, zum Beitritt zwingen, weil nur so eine Kontrolle der Arbeit und zugleich die — auch im Bürgerstande hochstehende — Ehre, die »Handwerks ehre«, und »das gemeinsame Beste« gewahrt werden könne. Auch für den Wert persönlicher Arbeit und Leistung — Meister- und Gesellenstück —, für die Gediegenheit und Qualität der Arbeit öffnete der bürgerliche Ehrbegriff den Sinn. »Nicht Ausschließung anderer vom Nutzen des Hand werks, sondern Unterwerfung des gesamten Handwerks un ter die Zunft war somit das Ziel dieses Strebens nach Aus schließlichkeit des Zunftgewerbes. Lief ein selbstsüchtiges Motiv dabei unter, so war dies sicherlich nicht Konkurrenz furcht und Eigennutz, sondern weit mehr das Streben nach Macht. Noch wollte man mehr die Genossenschaft haben als die Genossen.« Das war die Idee und das Ideal — aber das auch von Gierke in dem letzten Zugeständnis eingeräumte Machtmotiv hat sich auch im Zunftwesen Geltung verschafft. Auch hier klafft Idee und Wirklichkeit — allzu menschlich wieder und die bloße Virtualität der mittelalterlichen Gesellschaftsein heit enthüllend — auseinander. Neue Forschungen über die Zünfte verschließen sich dem nicht. Die Zunft ist so wenig wie ein anderer Stand des Mittel alters rein berufsständisch organisiert. Sie bedeutet selbst eine machtvolle Herrschaftsgenossenschaft, deren Glieder voll hohen Standesbewußtseins sind und, gestützt auf die Macht ihrer Zunft, im Rate das gesellschaftliche und wirt schaftliche Leben der Stadt stark mitbestimmen. Auch in die Zunft drängt sich das in Adel und Bauerntum geltende, für das Mittelalter — und noch lange darüber hinaus in den Adelskrcisen — so charakteristische Geburtsprinzip ein: der Sohn übernimmt das Geschäft des Vaters, und Meister kann nur werden, wer eines Meisters Sohn ist. So schließen sich, wie der hohe und niedere Adel samt den Stadtgeschlechtern, auch die Zünfte ab, und der Zunftzwang befördert diesen Prozeß, da er jeden, der arbeiten will, in die Zunft hinein-