Carl Philipp Emanuel Bachs Fantasie in c-Moll ein Lamento auf den Tod des Vaters? A, Von Wolfgang Wiemer (Aichschieß über Eßlingen) I. Im Jahr 1753 erschien der erste Teil von C. P. E. Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielend Dem Buchband war ein ungewöhnlich groß formatiger Separatdruck 1 2 beigegeben, enthaltend Exempel - die Notenbei spiele zum fortlaufenden Text des theoretischen Teils, auf sechs Kupfer tafeln - nebst achtzehn Probe-Stücken in Sechs Sonaten, ebenfalls in Kupfer ge stochen. Nach den sogenannten „Preußischen“ (1742) und „Württembergischen“ (1744) Sonaten war dies die dritte Sammlung von je sechs Sonaten, mit denen der Zweitälteste Bach-Sohn innerhalb von zwölf Jahren seinen Ruhm als führender Klavierkomponist seiner Generation begründete. Waren die beiden ersten Sammlungen für die Herausbildung der Klavier sonate als einer autonomen Kunstform beispielhaft, so tritt bei den „Probe- Stücken“, die ihren älteren Geschwistern qualitativ in nichts nachstehen, das Moment einer didaktischen Bestimmung ausdrücklich hinzu. Nicht nur wurden die Stücke - ein Novum in der Geschichte der Tasteninstrumenten- musik - Note für Note mit wohlüberlegtem Fingersatz versehen: auch die differenzierten dynamischen Vorgänge sowie Verzierungen und Artikulation sind in einer bisher ungekannten Präzision notiert. Dazu sind die Sonaten, was sowohl den technischen Schwierigkeitsgrad als auch den gehaltlichen An spruch betrifft, vom Einfachen zum Schwereren progressiv angeordnet. Und schließlich ist die tonartliche Geschlossenheit der jeweils dreisätzigen Sonaten zugunsten einer möglichst großen Vielfalt aufgegeben: keiner der achtzehn Sätze steht in derselben Tonart. 3 Wurde hierdurch die Bindung der einzelnen Sonatensätze untereinander schon bis zu einem gewissen Grad gelockert, so stellt die sechste Sonate in dieser Hinsicht einen Extremfall dar. Hier scheint, trotz der beziehungsvollen tonartlichen Verknüpfung der drei Sätze (f-Moll; As-Dur; c-Moll), der letzte Satz für sich zu stehen: durch die spezielle Titelgebung Fantasia, durch die entsprechend freie Anlage und Struktur sowie die vergleichsweise beträchtliche Ausdehnung wird der in den vorangehenden Sonaten für den Schlußsatz gesteckte Rahmen auffällig durchbrochen. 4 Otto Vrieslander bezeichnet denn auch die Fantasie unumwunden als „quasi letzten Satz“, den der Komponist 1 Der zweite Teil folgte erst 1762. 2 Im Hochformat 45,7 X 28 cm. 3 Ihre Tonartenfolge: C, e, G; d, B, g; A, a, E; h, D, iis; Es, b, F; f, As, c. 4 Vollständiger Neudruck der Fantasie bei H.-G. Ottenberg, Carl Philipp Emanuel Bach, Leipzig 1982, S. 114®.; Neuausgabe der sechs Sonaten, besorgt von E. Doflein, Mainz 193; (Ed. Schott, Nr. 2353 und 2354).