Georg Böhm und Johann Sebastian Bach Zur Chronologie der Bachschen Stilentwicklung Von Jean-Claude Zehnder (Basel) Eine Entwicklungsgeschichte des musikalischen Stils von Johann Sebastian Bach zu entwerfen, ist eines der Fernziele der Musikforschung. Der Weg zu diesem Ziel ist deshalb besonders beschwerlich, weil die sicher datierbaren Werke nicht allzu zahlreich sind und weil in manchen (datierbaren) Auto graphen ältere Werke in überarbeiteter Form nachgewiesen sind oder vermutet werden (etwa: die Achtzehn Choräle für Orgel, die Brandenburgischen Kon zerte). Der einfache Weg, aus datierten Werken eine Stilentwicklung abzu lesen und zu beschreiben, ist deshalb nur für relativ wenige Werke gangbar. Für einen Großteil des Bachschen Oeuvres muß mühsam und vorsichtig der umgekehrte Weg gebahnt werden: aus der Beschreibung von Stilmerkmalen muß auf die Entstehungszeit geschlossen werden. Symptomatisch für diese Situation ist beispielsweise, daß erst seit kurzem versucht wird, die Kammer musik Bachs aufgrund ihres Stils nach Köthener und Leipziger Werken zu ordnen. 1 Für die Orgel- und Cembalomusik der Frühzeit ist das Problem bekannter maßen besonders komplex. Eindeutig datierte Werke fehlen vollständig. Autographe vor der Zeit des Orgelbüchleins (der Beginn der Niederschrift wird im allgemeinen mit „Advent 1713“ angegeben 2 ) sind sehr selten: BWV 739/764 und BWV 5 35 a werden aufgrund der Schriftmerkmale vor den Mühlhäuser Kantaten oder mutmaßlich „um 1705“ angesetzt. 3 Dabei ist ein Werkbestand von weit über hundert Stücken zu ordnen, die alle in Ab schriften von sehr unterschiedlicher Qualität überliefert sind. Die Quellen bewertungen, wie sie in den Kritischen Berichten der NBA und in weiteren Studien 4 vorliegen, ermöglichen für einige wichtige Abschriften die Fixierung eines Terminus ante quem. So ist es zum Beispiel sehr wahrscheinlich, daß die in der „Möllerschen Handschrift“ enthaltenen Stücke vor 1708 komponiert sind. Solche Ergebnisse sind natürlich als Ausgangspunkt von Stilbetrachtun gen von unschätzbarem Wert, und es ist zu hoffen, daß weitere Quellendatie rungen eine noch bessere Grundlage ergeben werden. Eine wichtige Hilfestellung (die bis jetzt nur wenig genutzt wurde) leisten 1 C. Wolff, Bacb’s Leipzig Chamber Music, in: Early Music 13, 1985, S. 156; R. L. Marshall, Zur Echtheit und Chronologie der Bachschen Flötensonaten: Biographische und stilistische Erwägun gen, in: Bach-Symposium Marburg 1978, S. 48-71. 3 G. von Dadelsen, Zur Entstehung des Bachschen Orgelhücbleins, in: Fs. Friedrich Blume zum 70. Geburtstag, Kassel etc. 1963, S. 74-79; Wiederabdruck in: G. von Dadelsen, Über Bach und anderes. Aufsätze und Vorträge 195J-1982, hrsg. von A. Feil und T. Kohlhase, Laaber 1983. J. S. Bach, Orgelbücblein. Faksimile des Autograpbs, hrsg. von H.-H. Löhlein, Kassel etc. und Leipzig 1981, besonders S. 9L 3 TBSt 4/5; J. S. Bach, Seine Flandscbrift - Abbild seines Schaffens, eingeleitet und erläutert von A. Dürr, Wiesbaden 1984. 1 Siehe unten, Abschnitt II.