Das Thema in der Fuge Bachs. Von vr. Marc-Andre Souchay (Berlin). Einleitung. Die Raumkunst der abendländischen Architektur kennt zwei Ge- staltungsprinzipe: den Basilika- und den Zentralbau. Unzählige Mo difikationen sind möglich, aber alle haben letzten Endes eine Anlage entweder nach der Längsachse oder auf einen gemeinsamen Mittel punkt hin. Das Rechteck und der Kreis sind Ausdruck zweier ver schiedener künstlerischer Tendenzen: Das eine weist ins Unendliche, will unbegrenzt sein, leitet den Blick vom Nahen ins Ferne, der andere ist in sich geschloffen, sammelt alle Kräfte, saugt alles an. Die Gerade, das Symbol der Basilika, hat, parador ausgedrückt, eine zentrifugale, der Punkt, das Symbol des Jentralbaus, eine zentripetale Kraft. Die Zeitkunft der abendländischen Musik hat ebenfalls zwei Ur formen, die sich gerade so gut oder gerade so wenig mit denen der Architektur vergleichen lassen wie Zeit und Raum. Dem Rechteck entspräche hier ein immer weitergehendes Aneinander-ketten, ein stetiges Sich-entfernen vom Ausgangspunkt, dem Kreis ein ruhiges Gleich bleiben, eine ewige Gegenwart, also der Basilika die Reihen- (oder Ketten-) Form (a, b, c, ck, e usw.), dem Zentralbau die Rundsorm, die Variation (a, a,, L2, Lz, usw.). Fugieren und Variieren sind nicht zwei grundverschiedene Prin zipien, wie dies oft behauptet wird. Vielmehr bedeutet Fugieren eine Möglichkeit des Variierens: Es wird aus der einen Linie der Ober stimme, die die Gestalt und Haltung von Baß- und Mittelstimmen bedingt, ein voneinander unabhängiges Parallelensystem, wo jede Linie ihr eigenes Gesetz in sich trägt. Dadurch, daß nun daS Thema von jeder Stimme in einen anderen Bezug, in ein anderes Licht gesetzt wird, eine andere Funktion, ein anderes Kraftfeld er hält, kann verzichtetet werden aus das Variieren im engeren Sinne, das einen Abschnitt auch noch als Variation erfassen läßt, wenn er allein gespielt wird, auS seinem Zusammenhang gelöst ist. Bach-Jahrbuch 1927. 1