116 Gerhard von Keußler, Vorspiel „Aus tiefer Not" hat der rechte Fuß die Hauptmelodie vorzu- tragen, während der linke kontrapunktiert. Woher stammte das Recht der Kantoren, mit den Chorälen vorzunehmen, was ihnen beliebte? Worauf gründete sich die licentia orALno-poetica bei der .Auslegung des Textes' in den musikalischen Perikopen? War es ein Gewohnheitsrecht, daß die Organisten — von ihrem heiligen Instrument aus und auf ihre Art, nämlich mit Hand und Fuß — predigen durften? Aus den Annalen der Liturgie des 16. Jahrhunderts erfahren wir von katholischer Seite her weniger undeutlich und weniger unklar als proteftantischerseitS, in welchem Sinn die Wechselrede des Altars mit der Orgel — und nur mit der Orgel — geführt zu werden pflegte. Ein gedcnkwürdiges Kapitel zur Urgeschichte der modernen Programmusik! namentlich aber zur Entwicklungsgeschichte der musikalischen Symbolik und damit zur Charakteristik der instrumentalen Choralkunst Bachs. Und die Schulung im Bachgesang, insbesondere die Choral schulung. — Die gewaltigen Gipselschönhciten der instrumental- vokalen Choralphantasien Bachs, wie sie sich im Eingangschor der Matthäus-Passion technisch manifestieren, kann man erst dann vollwertig genießen, wenn man Schritt für Schritt aufgcstiegen ist von den kleinen und schlichtesten Choralsätzcn an, — durch die Choral kantaten hindurch. ,Schritt für Schritt' heißt hier, daß man einen volljährigen Lehr gang durchwandert haben muß, in dem man die vielen Einzelheiten der Technik Bachs kennen gelernt hat. Auf jeden der musikalischen Elementar begriffe — Melodik, Rhythmik, Harmonik, ferner Koloristik, Dynamik und wie immer die Sammelnamen lauten — auf jeden dieser Elementarbe griffe muß, den Phänomenen der bachischen Technik entsprechend, mit einer geraumen Studienzeit eingegangen werden. — Daß man für den Vortrag von Bachs schlichten Choralsätzcn in der Fermatcnfrage Bescheid weiß; daß man die Ausnahmen kennt, wo Bach einen Moll-Satz nicht in Dur, sondern in Moll schließt; daß man Beispiele für auffällige Unter malungen einzelner Textworte, melodisch, rhythmisch und harmonisch an zuführen weiß, — — all diese Kenntnisse können gut sein, sind aber zu wenig. Überdies sieht man sich durch bloße Paradigmcnkenntnis leicht zu Fehl schlüssen verleitet. Gegen unseren allmenschlichen Denkfehler, gegen die voreilige Induktion und damit — bei Bach — gegen unsere falschen Aus deutungen und herausfordernden Verkennungen rein artistischer Phänomene, kann man sich nur durch die weiteste Beschaffung von Vergleichsmaterialicn schützen und wappnen. Sagt uns, beispielsweise, der Literat, daß Bach die Chromatik nur dort anwende, wo ein Affekt der Bcdrängung ausgedrückt