ursprünglicben Fassung war die Dehnung der Endsilbe vorgesehen, die aber den Deklamationsprinzipien der altklassischen Polyphonie deshalb widerspricht, da der Silbenwechsel unvermittelt nach einer Minimenbewegung eintritt. Die Lösung, die Silbe auf dem 1. Taktteil des zweiten Taktes einsetzen zu lassen, erschien unmöglich, da der taktisch-deklamatorische und melodische Akzent in diesem Falle nicht zusammenfallen würden, eine Zusammengehörigkeit, die im 18. Jahrhundert unbedingt er forderlich war. Daher entschloß sich Bach zu vorliegender Änderung der Sopranstimme, während Cometto I die Originalfassung als Diminution des Soprans bringt. Diese Änderung ist für die De klamationsauffassung im 18. Jahrhundert und die dadurch bedingte Stellungnahme zum alten Stil außerordentlich bezeichnend, wenn gleich Bach derartige freie Änderungen selten anbringt und sich im Gegensatz zu anderen seiner Zeitgenossen stets streng an die Original fassung hält. Außer dieser interessanten melodischen Änderung zeigt vorliegendes Beispiel auch deutlich die Verwendung der Akzidentien, die nicht nur zur „Modernisierung" der Grundtonart dienen, sondem eine viel weitergehende Bedeutung besitzen. Wohl ist ihre eine Aufgabe, durch Einführung des und cis aus Dorisch ein reines cl-moll zu bilden. Damit ist ihre Aufgabe aber nicht erfüllt, es wird dasSubsemitonium bei jeder harmonischenFortschreitung indominan- tischem Sinn eingeführt, sodaß dadurch nicht nur der Charakter der Harmonie, sondem auch die melodische Führung völlig verändert wird. Die Fortschreitungen, die in der Kirchentonart den melodischen Charakter noch besonders hervortreten ließen, erscheinen als harmo nische Spannungen, die Kadenz des 18. Jahrhunderts sucht auch im alten polyphonen Satz ihre Rechte geltend zu machen und bringt hier durch äußerlich geringfügig erscheinende Änderungen neue, der Musik des 16. Jahrhunderts völlig fremde Elemente zum Durchbruch. Freilich vermag Bach auch hier im Gegensatz zu anderen Zeitgenossen Maß zu halten. Leittonwirkungen werden von unten und oben erstrebt, um jede Härte in der melodischen Führung bzw. Bach-Jahrbuch 1927. 9