Marc-Andre Souchay, 2. Themenbau. „Melodie ist Fluß, Bewegungszug, nicht eine Summe einzelner Töne. Bachsche Linie! Bachsche Linearität!" Woher kommt aber dieses Wcgspülcn der Taktstrichgittcr, Wcgtragcn über Zäsuren, Pausen, metrische Einschnitte, harmonische Verwicklungen und Här ten? Warum fühlen wir bei Bach eine „Stimmigkeit" wie nir gends in der klassischen Musik? Durch Untersuchungen von HalmH und Kurths), vor allem aber von Schenker H hat man gelernt, die „Urlinie" aus einem melodischen Verlaus herauszuschälen, die Töne zu verbinden, „um die eS sich dreht", die den Ausschlag geben für die Gestalt und Gesinnung im Großen. Sie ist die größtmögliche Vereinfachung der Melodik, das Präparat ihres Skeletts, ein ideales Präpa rat freilich, das nicht nur von Leichen zu machen ist, das sogar selbst lebt. Bei sämtlichen Fugcnthcmen ist sie nichts anderes als die Ton leiter, und zwar die Tonleiter in ihren vier einfachsten Erscheinungs möglichkeiten : als nur steigende, nur fallende, steigende und fallende und erst fallende, dann steigende Leiter. Wie hoch sie sich hebt, senkt, hebt und wieder senkt oder senkt und wieder hebt, ist natürlich verschieden. Ist die Fuge die Hauptform des Bachschen Stils, so ist die dia tonische Tonleiter besten Hauptausdrucksmittel; sic ist der Inbegriff des melodischen Denkens, sie ist ein „musikalisch Ursprüngliches, Ursächliches", sie ist „die Möglichkeit deS melodischen Werdens, der Wille zur melodischen Erscheinung. In ihr ist das grundsätzliche Nacheinander der Töne, und damit die Freiheit von der Harmonie, bester gesagt, die freie Gegensätzlichkeit zur Harmonie geborgen" (Halm, a. a. O. S. 220); sie ist kein totes Nebeneinander von ein paar steigenden und fallenden Tönen, sie ist unsterblich trotz der >) August Halm! Zwei Kulturen der Musik, München 1920. 2) Ernst Kurth: Grundlagen des linearen Kontrapunkts, Bachs melodische Polyphonie, Berlin 1922. s) Heinrich Schenker! Der Tonwille; Flugblätter zum Zeugnis unwandel barer Gesetze der Tonkunst, Wien-Leipzig 1921 ff.