Das Thema in der Fuge Bachs. 9 Mißhandlung, die sie täglich und stündlich von „Übenden" erfährt. Sie ist ein stärker und schwächer werdender Strom, eine sich hebende und zurücksenkende Welle, eine Flut und Ebbe von Kraft, ein na türliches Ein- und Ausatmen, eine musikalische Systole und Dia stole, eine Einheit, die nicht zerschnitten und zerteilt werden darf, sondern nur als Ganzes lebens- und zeugungsfähig ist, das Ideal für eine kontrapunktisch denkende Zeit, aus die kürzeste und einfachste Formel gebracht. Diese simpel scheinende Formel ist in Wirklichkeit so kompliziert und differenziert wie alles Organische, sie ist aber doch so klar für uns, so selbstverständlich, wie nur wieder Orga nisches sein kann. Der einzelne Ton hat keine Bedeutung: er wirkt im Zusammenhang. Die Leiter kann unvollständig sein, der Bewegungsimpuls, der ihr zugrunde liegt, für den sie nur Normal ausdruck ist, kann uns wegtragcn auch über große Intervalle, ohne daß wir deshalb einen Bruch empfinden brauchen. Sie kann übervollständig, chromatisch sein, wenn sich die treibende Kraft des Melos ausgiebiger realisiert als in der diatonischen Skala (auf Streichinstrumenten können die chromatischen Töne noch gezogen werden). Aber immer ist die diatonische Leiter die goldene Mitte, der Ausgleich von zu viel und zu wenig. Deshalb kann sie uns „als Möglichkeit des melodischen Werdens" nie zuviel werden. Kurth schreibt in seinem Aussatz „Zur Motivbildung Bachs. Ein Beitrag zur Stilpsychologie" im Bach-Jahrbuch von 1917, S. 117: Oft sind Themen nichts als vergrößerte Entwicklungsmotive (er versteht darunter einfachste Motivbildungen: die bei Bach sehr häufig Vorkommen). Wir möchten fragen: Sind nicht diese Motive Verkleinerungen der Tonleiter, liegt nicht auch ihnen die Tonleiter zugrunde, könnten wir nicht, Kurths eigene Worte (S. 116 unten) in diesem Sinne verändernd, sagen: Indivi duelle Themcnformen sind Verdichtungen der Tonleiter zu stärkerer Eigencharakteriftik. Diese allgemeine Linienbewegung ist bei Bach primär? Noch einmal möchte ich auch Halm zitieren (a. a. O. S. 219): „Die Tonleiter haben wir von vornherein im Gefühl, sie dient