8 Hans Joachim Kreutzer dende sprach- und stilgeschichtliche Erneuerungen der deutschen Literatur machen sich um 1740 bemerkbar, doch schon in Bachs unmittelbarer Umge bung, etwa bei Gottsched, zeigen sich vorbereitende Tendenzen. 2. Mit der aufkommenden Empfindsamkeit verblassen sowohl religiöse Inhalte der Lite ratur als auch daran ausgerichtete Leseinteressen. 3. Innerhalb des literarischen Gesamthaushalts besitzt religiöse Gebrauchsliteratur gleichsam von Natur einen stark traditionalistischen Grundzug. Moderne oder auch nur zeitge- nössische literarische Tendenzen lassen sich hier weniger finden. Dahinter steht ein generelles Problem: wenn wir versuchen, Entscheidungen nachzuvollziehen, die ein Komponist getroffen hat, der Literatur in großen Mengen quasi verbrauchte, dann versuchen wir, allgemeiner gesprochen, das Zusammenspiel der Künste in ihrer Geschichte zu verstehen. Jeder Versuch dieser Art stößt auf bestimmte Hindernisse, von denen eines immer wieder kehrt, das ist die Vorstellung von der Gleichzeitigkeit des Gleichwertigen. Instinktiv hegen wir die Erwartung, daß in aller Regel das Genie auf der Suche nach dem kongenialen Partner sei, daß letztlich also die Entwicklung der Literatur und die der Musik annähernd parallel verlaufen. Das ist aber selten genug der Fall. Infolgedessen bereiten alle Kompromisse und Inkongruenzen dem historischen Verstehen die größten Schwierigkeiten. Solange Schubert Goethe-Gedichte vertont, fühlt sich der Kritiker sicher. Sobald er aber angeben soll, warum Schuberts Mayrhofer-Lieder auch nicht schlechter sind als die Gesänge des Harfners aus dem „Wilhelm Meister“, gehen ihm rasch die Kate gorien aus. Die Bündnisse, die der komponierende Johann Sebastian Bach mit der Litera tur seiner Zeit eingegangen ist, führen uns in unwegsames Gelände. Wir haben es praktisch so gut wie nie, so einfühlsam man auch auf historische Bedingt heiten achten mag, mit Literatur von Rang zu tun, auch nicht im Sinne der Zeit. Die Literaturwissenschaft hat in den vergangenen zwanzig Jahren über Tri vialliteratur viel gearbeitet und noch mehr geredet, das heißt, sie hat überwie gend Postulate aufgestellt, aber sie hat sich mit Vorliebe für solche Formen interessiert, die aus der poetischen Literatur abgeleitet sind. „Gebrauchslitera tur“ - und das ist der übergreifende und neutralere Begriff - liegt nach wie vor unterhalb der wissenschaftlichen Interessenschwelle. Allenfalls Opernlibretti haben eine gewisse Aufmerksamkeit gefunden. Das nötigt zur Behutsamkeit, wenn wir unsere Leitfragen verfolgen: was für Literatur hat Bach angezogen? Suchte er nach Äquivalenten zu seinem Kompositionsstil? Ist er überhaupt nach persönlichen, nach Geschmackskriterien vorgegangen? In welchem Um lang hatte er denn eigentlich Wahlmöglichkeiten? Eine Literaturgeschichte Leipzigs enthielte nicht wenige große Namen der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts, jedoch zum Teil in recht spezieller Position. Ungefähr vom Ende der zwanziger Jahre bis gegen 1740 reformierte und beherrschte Johann Christoph Gottsched die Literatur im deutschen Sprachgebiet. In Bachs letzte Lebensjahre aber fallen dann die frühen Ver öffentlichungen der Leipziger Studenten Lessing und Klopstock, also auch schon die literarische Anakreontik und Empfindsamkeit. Aber Berührungen gibt es nur wenige. Das Leipzig, das Bach 1723 betrat, war im deutschen Sprach- raum wesentlich ein Zentrum gelehrter Buchproduktion.