Bachs Eingriffe in Werke fremder Komponisten : Beobachtungen an den Notenhandschriften aus seiner Bibliothek unter besonderer Berücksichtigung der lateinischen Kirchenmusik
Bachs Eingriffe in Werke fremder Komponisten 49 rungen, wie sie im „Domine fili unigenite“ der Missa von Lotti beobachtet werden konnten, ohne Kenntnis der Vorlage von Korrekturen gewöhnlicher Abschreibfehler nicht unterscheiden. Trotzdem sei hier der Versuch unter nommen, einige grundsätzliche Antworten auf die Frage zu geben, ob auch hier Eingriffe Bachs nachweisbar sind. Werke in Stimmenkopien Nur zwei der betreffenden Werke sind in Stimmenabschriften erhalten: die Kopie des Kyrie von Marco Gioseffo Peranda (1625-1675) und die von Bach geschriebene, einzeln überlieferte Violoncellostimme zu einer anonymen Messe in c-Moll (BWV Anh. 29). Das Kyrie von Peranda ist durchweg von einem Kopisten geschrieben, der sonst bei Bach nicht nachweisbar ist. Seine Schrift ist aber in Quellen aus Johann Gottfried Walthers Nachlaß wiederzufinden, nämlich in Abschriften von Kantaten Johann David Heimchens. 81 Ob der Kopist für Walther oder für Bach gearbeitet hat, ist nicht geklärt. Es ist denkbar, daß mit der Peranda- Kopie eine Quelle aus ehemaligen Walther-Beständen in Bachs Besitz überge gangen ist. 82 Ob Bach das Werk umgearbeitet hat, läßt sich wegen dieser unge sicherten Provenienz und in Ermangelung von Konkordanzen nicht klären. Bei der anonymen Missa c-Moll können aufgrund der mangelhaften Überliefe rung des Werkes keine Rückschlüsse auf vorgenommene Veränderungen ge zogen werden. Die einzige erhaltene Violoncellostimme ist korrekturfrei und bietet somit keinen Anhaltspunkt hierfür. Werke in Partiturkopie Die Abschrift der Missa Johann Hugo von Wilderers (1670/71-1724) wurde von Bachs Kopist Christian Gottlob Meißner begonnen, dann von Bach voll endet. Eine ähnliche Arbeitsteilung ist auch in der Missa G-Dur (BWV Anh. 167) zu beobachten, die von einem Schreiber angefangen worden ist. Allein die Tatsache, daß Bach die Partiturkopien zunächst seinen Kopisten überläßt, spricht für reine, unveränderte Abschriften. Der von Bach geschriebene Teil in der anonymen G-Dur-Messe ist meist korrekturenfrei und kalligraphisch geschrieben. Die wenigen Korrekturen sind entweder Richtigstellungen von Abschreibfehlern oder Detailveränderungen wie in der Missa von Lotti. An zeichen in der Kopie der Wilderer-Messe sprechen dafür, daß die Partitur aus Stimmen spartiert worden ist. 83 Veränderungen während des Abschreibens in 81 „Gegrüßt seyst du holdselige Maria“ (zusammen mit einem weiteren unbekannten Kopi sten), „Gott ist unser Zuversicht“ und „Es lebet Jesus unser Hort“, DSB Mus. ms. jo 21 o, Nr. 9-11. Die Kantatenabschriften sind durch die Sammlung Bokemeyer überliefert, vgl. H. Kümmerling, Katalog der Sammlung Bokemeyer. Kassel etc. 1970 (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft. XVIII.). 82 Da nicht bekannt ist, für wen der Kopist gearbeitet hat, muß man auch die umgekehrte Möglichkeit, Walther habe die Kantatenabschriften von Bach erhalten, im Auge behalten. 83 So notiert Meißner den Einsatz der Viola I in T. 19 des ersten „Kyrie“ zunächst einen Takt zu früh. Am Ende des „Christe“ drängt er die letzten fünf Takte aller beteiligten Stimmen