Bachs Eingriffe in Werke fremder Komponisten : Beobachtungen an den Notenhandschriften aus seiner Bibliothek unter besonderer Berücksichtigung der lateinischen Kirchenmusik
158 Kirsten Beißwenger Mit dieser Sanctus-Komposition liegt ein Veränderungsverfahren vor, das Bach bei fremden Werken nur noch im Sanctus D-Dur von Johann Caspar Kerll 107 und in der Stabat-mater-Parodie nach Pergolesi angewandt hat. Es verdeutlicht zweierlei: 1. Bach hat fremdes Werkgut wie sein eigenes benutzt und es den Aufführungs erfordernissen angepaßt. 2. Bachs Eingriffe in das fremde Werk zerstören nicht die eigentliche Werk substanz. Er greift zwar verbessernd in den vorhandenen Notentext ein, dessen ursprüngliches Gerüst bleibt jedoch bestehen. Im Falle des anonymen Sanctus bewirken seine Eingriffe vor allem, daß die stereotype Motivik etwas variabler gestaltet wird. Hans T. Davids These, Bach habe einen Concertosatz bearbeitet, hat sich durch unsere Untersuchung als hinfällig erwiesen. * Das Spektrum von Bachs Eingriffen in die Werke anderer Komponisten ist weit gefächert. Satzfehlerkorrekturen, geringfügige Detailveränderungen, das Einrichten der Werke entsprechend den eigenen Aufführungserfordernissen fallen genauso darunter wie Parodien und das Erweitern des Werkes um neu komponierte Satzabschnitte oder das Ersetzen eines originalen Satzes durch einen neukomponierten. Diese Feststellungen sind nichts Neues. Doch ist mit dem vorliegenden Beitrag eine zusätzliche Methode für das Ermitteln von Bachs Eingriffen in fremde Kompositionen vorgestellt worden. Dieser Me thode liegen Beobachtungen der Schrift, der Korrekturen und der an der Ab- Schrift beteiligten Schreiber zugrunde. Es konnte veranschaulicht werden, daß Bachs Eingriffe meistens visuell erfaßbar sind. An der Kopie des „Livre d’Orgue“ von Nicolas de Grigny und der Abschrift der Markus-Passion von Reinhard Keiser konnte - entgegen den bisherigen Vermutungen - gezeigt werden, daß nicht alle zwischen den Abschriften Bachs und Konkordanz quellen bestehenden Veränderungen zwangsweise auf Bach zurückgehen, son dern oftmals die Auseinandersetzung anderer Komponisten, Kantoren oder Musiker mit dem betreffenden Werk widerspiegeln. Dieses Ergebnis mahnt zur Vorsicht: so verlockend es ist, in Bach den Neuerer und Verbesserer sehen zu wollen, so trügerisch kann diese Wunschvorstellung sein. Andere, heute Unbekannte sin'd bei der Aufgabe, die Werke für ihre Aufführungszwecke ein zurichten, wohl vielfach genauso verfahren wie Bach. Von besonderem Interesse waren schließlich die Kopien der lateinischen Kir chenkompositionen, die durch Bach singulär überliefert sind. Bei diesen Ab schriften konnte erkannt werden, daß zumindest fünf der insgesamt neun Werke unverändert abgeschrieben worden sind. Dieses Resultat weist darauf hin, daß wohl mehr Abschriften Bachs notengetreue Wiedergaben ihrer Vor lagen sind, als bisher angenommen. 107 Vgl. hierzu den Beitrag Peter Wollnys im vorliegenden Jg.