20 Hans-Joachim Kreutzer Drum Schönste fangt doch an, Kommt zur Gelehrten Bahn. 35 Die Spuren der Komposition dieses Liedes weisen in die Bachsche Familie, zu den beiden ältesten Söhnen, indirekt sogar auf den Vater. Der Beginn des Liedes ist identisch mit dem Themenkopf eines „Solo per il Cembalo“ in Es- Dur in dem zweiten „Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach“ von 1725. 36 Auch Henrici-Picander war, gleich Mariane von Ziegler, weder Dichter noch Gelehrter. Er steht in vielerlei Hinsicht zwischen den beiden in geschicht licher Perspektive überragenden Gestalten im Leipzig der Aufklärung, zwi schen Bach und Gottsched. Alle drei begannen ihren Leipziger Weg gleich zeitig, wenn auch Bach auf einer ganz anderen Stufe als die beiden um fünfzehn Jahre Jüngeren. Picander gelangte 1727 in ein erstes Amt. Gottsched lehrte zwar schon seit 1724 an der Universität, erreichte eine ordentliche Professur aber erst 1734. Gottsched und Picander haben sich jahrelang in ihren Publika tionen polemisch miteinander herumgebissen. In den Jahren ihres Aufstiegs standen sie konkurrierend gelegentlich nebeneinander; 1726 hat der Leipziger Rat Schriften von ihnen sogar einmal gemeinschaftlich konfisziert. 37 An Bachs Hochschätzung für Picanders Können besteht kein Zweifel; das Titelblatt der autographen Partitur der Matthäus-Passion nennt ihn ausdrücklich, was, alleine schon der Einmaligkeit des Vorgangs wegen, auch als Auszeichnung aufge faßt werden könnte: „Poesia per Dominum Henrici alias Picander dictus.“ Die Philologen haben sich für ihn nicht interessiert. Karl Goedekes knappe Charakteristik gibt uns heute Rätsel auf: „Er hatte das Unglück, seiner Platt heit durch rohe Schlüpfrigkeit aufhelfen zu wollen. Elender Nachahmer Gün thers“. 88 Daran wäre natürlich etwas, sofern man Auftrags- und Gebrauchs texte nach Art jüngerer Dichtung als Ausdruck der Autorpersönlichkeit auf fassen dürfte. Es wäre unangebracht, wollte man sich über einen Wissenschaft ler erheben, der nur diese, aus der Goethezeit überkommene Kategorie kannte. Picander gehört zu dem intellektuellen und sozialen Bodensatz, für den die Großstadt mit Universität Überlebensmöglichkeiten bot. Seine Tätigkeit, be stehend im Verkauf seines eminenten Talents, Verse zu formulieren, steht einerseits dem Handwerk nahe. Die festlich begangenen Höhepunkte des Le benslaufs hob man mit gedruckten Carmina aus dem Gleichmaß des Alltags heraus. Das ließe sich mit der Arbeit des Schneiders vergleichen, der Festge wänder herstellt - textus heißt eigentlich Gewebe. Picander führte ein Arbeits leben von äußerster Härte: „Es ist mir wie einem Postillon gegangen; ich 35 Zitiert nach der Anthologie, die Jürgen Stenzei herausgegeben hat: Gedichte 1700-1770. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge, München 1969 (Epochen der deutschen Lyrik. 5.), S. 143. 36 In dem 1988 von Georg von Dadelsen für die Mitglieder der Neuen Bachgesellschaft her ausgegebenen Faksimile S. 79. - Nach dem Manuskript des neuen Bach Compendinrns, das Christoph Wolff mir freundlicherweise zeigte, haben sich die Autoren zu einer Zuschrei bung an Bach selbst entschlossen. 37 Flossmann, a.a.O., S. 53. 38 Grundriß z ur Geschichte der deutschen Dichtung. 2. Aull., Bd. 3, Dresden 1887, S. 352.