Hans Joachim Kreutzer 3° der Melodie über die Harmonie hinaus, mittelbar zugleich auf den des Textes über die Komposition. Damit war zugleich das dritte Thema mit angeschnitten: der Naturbegriff. Für Scheibe bedeutete Natur soviel wie Natürlichkeit im Sinne von Schlichtheit. Birnbaum bestritt das Naturnachahmungsprinzip nicht grundsätzlich, wohl aber Scheibes Gleichsetzung von Natürlichkeit mit Schlichtheit. Birnbaum plädierte für die Autonomie der Kunst und ihrer Mittel. Um dieselbe Zeit eroberten die Schweizer Literaturtheoretiker der dichteri schen Phantasie, die sich vor allem in der Bildlichkeit verwirkliche, ihre Rechte. Als dann wenig später Klopstocks Dichtung aultauchte, noch zu Bachs Leb zeiten, sah Gottsched darin nur eine Fülle kühner Bilder und schwer verständ licher Satzkonstruktionen, und es überfiel ihn die Angst vor der Wiederkehr eines vergangenen Zeitalters. Schade eigentlich oder fast grotesk, daß sich Gottsched mitten in dem Disput zwischen Scheibe und Birnbaum, im August 1738, von seinen eigenen Anhängern lossagte, indem er aus der bis dahin von ihm geleiteten Deutschen Gesellschaft austrat. Birnbaum argumen tierte durchaus nicht geschichtlich defensiv. Das Stichwort „Lohen stein“ ist in dieser Zeit schon ambivalent. In dem Scheibe-Birnbaum-Streit sind die ästhetischen Gegensätze der kommenden Zeit bereits angelegt. Daß Bach und seine Verteidiger überhaupt, daß sie vor allem derart gründlich und ausführlich auf Scheibes Passage reagierten, läßt zugleich auf ein erhebliches Selbstbewußtsein rückschließen. Fast hat es den Anschein, als hätten sie in dem gleichen Zusammenhang auch noch Mathias Gesner mobilisieren können, der in seine Quintilian-Edition von 1738 eine lange Anmerkung über Bach einfügte. 59 Die Wirkungsgeschichte der Musik verläuft anders als die der Literatur. Wäh rend Bachs Kantaten in der Rezeption zu Kunstwerken wurden, verloren die Texte ihren Charakter als Gebrauchstexte keineswegs. Ihre genauere historische Analyse veranschaulicht deshalb den ursprünglichen geschichtlichen Sinn der Musik Bachs. Kleiner Tipilog: Alle Aussagen über Bach und seine Texte beruhen auf ganz lückenhaften Grundlagen. Nur für ein Drittel der Vertonungen können wir ja Autoren benennen. Es ist verständlich, daß man immer wieder Bach selbst als Autor in Anspruch genommen hat. Man tat es mit kontradiktorischen Argumenten: einmal für besonders dilettantische, einmal für ganz überragende Texte. Man kann bezweifeln, daß Bach im Sinne seiner Zeit ein litteratus, das heißt ein zur Formulierung von Texten befähigter Mann gewesen ist, und ich glaube, daß man das auch nachweisen kann. Sein Vorgänger im Amt, Kuhnau, repräsentierte als letzter den Typus des gelehrten Kantors, er war approbierter Notar und ist als Romanautor keineswegs unbeachtlich. Warum aber hat Bach überhaupt nur in relativ geringem Umfang Texte verwendet, die er sich gleich sam herstellen lassen mußte? Warum hat er sich so bald der geistigen Welt des lutherischen Chorals zugewandt? Wer hat ihm die Texte seiner Choralkantaten 59 Dok II/452, S. 35 if. - Hier würde man am ehesten einen Hinweis auf den Rhetoriker Bach erwarten dürfen. Gesner beschreibt aber ausschließlich die unvergleichliche Geschicklich keit, mit der Bach seine Aufführungen leitete - oder ein Umwerfen verhinderte.