„150 Stück von den Bachischen Erben“ Zur Überlieferung der vierstimmigen Choräle Johann Sebastian Bachs Von Hans-Joachim Schulze (Leipzig) In der Nacht vom 26. zum 27. Juli 1783 starb in Berlin, seinem langjährigen Wirkungsort, einer der treuesten Schüler Johann Sebastian Bachs, Johann Phi lipp Kirnberger. Bis in seine letzten Lebenswochen hatte er versucht, einen Lieblingsplan der Verwirklichung näherzubringen und den Leipziger Verleger Johann Gottlob Immanuel Breitkopf zu einer vollständigen Ausgabe von Bachs vierstimmigen Chorälen zu bewegen.' Sechs Jahre lang war Kirnberger in bei nahe jedem Brief an Breitkopf mehr oder minder ausführlich auf dieses Vor haben zu sprechen gekommen, hatte am Ende die Manuskriptvorlage sogar unentgeltlich zur Verfügung gestellt und auf jegliches Honorar verzichtet, doch alles ohne Erfolg. Nach bisheriger Kenntnis wäre Kirnberger der dritte Herausgeber gewesen, der sich um eine Edition der Bach-Choräle bemühte. Seine Vorgänger waren Friedrich Wilhelm Marpurg und Carl Philipp Emanuel Bach. - Marpurg zielte ursprünglich auf eine Sammlung von Sätzen verschiedener Autoren, doch kam sie nicht zustande. Eine sichere Spur findet sich allerdings erst in einer Ab handlung aus dem Jahre 1738 (Abdruck des Satzes BWV 377).' Gegen Ende des Siebenjährigen Krieges ergab sich dann eine Zusammenarbeit mit dem Berliner Verleger Friedrich Wilhelm Birnstiel, die aber nach Marpurgs An stellung im königlichen Lotterieamt (1763) vorzeitig endete. Daß der 1765 erschienene erste Band der Birnstiel-Ausgabe' 1 2 3 4 5 bis mindestens Nr. 31 (dies ist der letzte von vier Choralsätzen, die C. P. E. Bach 1765 «ds unecht beanstan dete) auf Marpurgs Sammlung zurückgeht, hat Friedrich Smend° mit Recht betont. Will man den eben erwähnten Satz BWV 377 mit ins Spiel bringen, so wäre Marpurgs Anteil sogar bis Nr. 48 auszudehnen. Woher Marpurg seine Vorlagen bezog, ist bislang unklar. Seine Sammeltätigkeit könnte schon vor 1750 begonnen haben und bis zu seiner Begegnung mit Johann Sebastian Bach zurückreichen. Durch seine Beziehungen zu den beiden ältesten Bach-Söhnen dürfte Marpurg auch nach 1750 noch Zugang zu Quellen ersten Ranges gehabt haben. Inwieweit Marpurgs Absichten mit den Plänen C. P. E. Bachs kollidierten, läßt sich schwer sagen. Dieser jedenfalls verstand sich als „eigentlichen Samm ler“ 6 der Choräle seines Vaters, was ihn nicht hinderte, nach dem Scheitern 1 Vgl. Dok III, Nr. 821 ff., 839 ff., 877 ff. Kirnbergers Interesse an hymnologischen Fragen belegt Dok III, Nr. 879. 2 Die in Dok III. Nr. 823, geschilderten Notmaßnahmen bei der Fortführung der Birnstiel- Ausgabe mögen hier außer Betracht bleiben. 3 Vgl. Dok III, Nr. 697. 4 Zu den im folgenden zitierten Ausgaben vgl. Krause II, S. 60 ff., sowie den Beitrag von G. Wachowski im vorliegenden Jahrgang. 5 BJ 1966, S. 6. 6 Vgl. Dok III, Nr. 753. 6 5366