Bachs Matthäus-Passion. Untersuchungen zur Geschichte des Werkes bis 1750. Von sic. Leol. Friedrich Smend (Berlin). I. Die vorliegende Arbeit geht von dem Gedanken aus, daß unser Ver ständnis der Bachschen Matthäus-Passion über das bis heute erreichte Maß kinaus vor allem dadurch gefördert werden könne, daß die Frage nach dem geschichtlichen Werdegang des Werkes in den Vordergrund der Untersuchung gerückt wird ^). Die ganze Gruppe von Problemen, die sich hier auftut, ist noch nicht zusammenhängend erörtert worden; ja nicht einmal das notwen dige Material zu ihrer Untersuchung wurde bisher veröffentlicht. Denn während die Ausgabe der Bach-Gesellschaft (BG) bei vielen anderen Werken die ver schiedenen erhaltenen Fassungen berücksichtigt und in den Vorreden oder ge legentlichen Anhängen gestattet, sich ein Bild von dem Entwicklungsgang und dem Fortschritten von Bachs Arbeit zu machen, begnügt sie sich bei der Matthäus-Passion damit, die beiden im Autograph vorliegenden Zeugen, die Partitur (OrP) und die Stimmen (OrSt), beide im Besitz der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlins, zu vergleichen, und einen Notentert herzu stellen, der oknc Frage dem letzten Willen des Meisters im Wesentlichen ent spricht. Die Vorrede erwähnt nur gelegentlich 3), Laß uns durch Abschriften die Kenntnis älterer Gestalten des Werkes vermittelt werde. Welche Ab schriften sie meint, gibt sie nicht an, geschweige daß sie auch nur die wich tigsten der Abweichungen mitteilt. Von diesen älteren Abschriften hat Philipp Spitta eine einzelne einer genauen Untersuchung unterzogen und sie nach i) In seinem Werk „Der deutsche Gesangverein" (Band 2, Berlin 1924, S. 3) sagt Siegfried Ochs auch vom Standpunkt des praktischen Musikers aus: „Bei manchen Werken, z. B. Israel in Ägypten oder der Matthäuspassion, ist es unmöglich, die richtigen Maßnahmen zu treffen, wenn man ihre Genesis nicht kennt". -) Die Signatur der Original-Partitur lauter: Mus. Ms. autogr. Bach P 25, die der Original-Summen: Mus. Ms. autogr. Bach St. 110. Dem Direktor der Musikabteilung der Preuß. Staatsbibliothek, Herrn Univ.-Prof. 1)r. Johannes Wolf, bin ich für die Zugänglichmachung dieser und der übrigen Handschriften sowie für unermüdliche Beratung bei ihrer Benutzung zu dem größten Dank verpflichtet. ») Vgl. die Vorrede zu BG IV, S. XIX. Oop^rizlrt 1929 i-v Lreitkopk A Härtel, Oeipri^. Bach-Zahrbuch 1928. 1