9 6 Carl Dahlhaus Zwei Merkmale der Permutadonsfugen Bachs - der Stimmtausch im mehr fachen Kontrapunkt und der sukzessive Zusammenhang der Kontrapunkte in den einzelnen Stimmen - beruhen auf verschiedenen geschichtlichen Voraussetzungen. Der Stimmtausch stammt aus der Fuge mit Doppel thema und ergänzendem Kontrapunkt, der feste sukzessive Zusammenhang aus der Engführungsfuge des 17. Jahrhunderts (s. unten Teil III). Am vo kalen Charakter beider Formen ist nicht zu zweifeln. Ein Doppelthema be deutet im 17. Jahrhundert gleichzeitige Darstellung verschiedener Teile oder Momente eines Textes durch Deklamationsmotive und expressive Phrasen. (Im Unterschied zur Vokalfuge, in der ein Text auch dann, wenn er durch ein Doppelthema in seine verschiedenen Momente auseinander gelegt wird, als Einheit verstanden werden soll, wurde das Doppelthema in der Instrumentalfuge zu einem Mittel, um eine neue Form zu bilden: die dreiteilige Doppelfuge, in der die Themen zunächst einzeln durchgeführt und dann kombiniert werden.) Die Disposition der Teilthemen oder Kon trapunkte ist, anders als in Bachs Permutationsfugen, unregelmäßig. Im Gegensatz zum Stile moderno der Fugen mit Doppelthema beruht die Eng führungsfuge des 17. auf dem Stile antico des 16. Jahrhunderts. Der Text wird nicht in charakteristisch verschiedene Teile zerlegt, sondern als zu sammenhängender Satz in linearer Stimmführung vorgetragen. Textdar stellung und Imitationstechnik stehen in genauem Zusammenhang: wie der Satz, den sie vortragen, bilden die einzelnen Stimmen eine Einheit, die noch nicht in Thema und Kontrapunkt zum Thema zerfallen ist. Der sukzessive Zusammenhang der Kontrapunkte in Bachs Permutations fugen bedeutet gegenüber der vokalen Doppelfuge des 17. Jahrhunderts eine Verkettung der Teilthemen, gegenüber der Motettenfuge dagegen eine Artikulation der linearen Melodik. Die melodische Verbindung der Kontrapunkte beruht auf der Form des Fortspinnungstypus: Vordersatz, Fortspinnung und Epilog bilden eine Einheit deutlich abgehobener Teile; der Gegensatz zwischen der linearen Stimme der Engführungsfuge und den Teilthemen der Doppelfuge ist gleichsam zu einer Differenz im „Thema selbst“ geworden. Durch den Wechsel zwischen T und D (Dux und Comes) wird der melodische Zusammenhang der Kontrapunkte nicht zerrissen, denn der Fortspinnungstypus ist, im Gegensatz zur klassischen Periode, an keine in sich geschlossene und immer gleiche Stufenfolge gebunden. Der Fortspinnungstypus, in dem der Unterschied zwischen den älteren Formen vokaler Fugenthematik aufgehoben ist, muß allerdings als primär instrumental gelten. Bach aber hat die Instrumentalmotive und -formen „sprechend gemacht“. Seine Vokalmusik stellt nicht, wie der monodische Stil des 17. Jahrhunderts, die syntaktisch-inhaltliche Gliederung, sondern den Sinn des Textes dar. Der primär instrumentale Fortspinnungstypus kann also, wird er „zum Reden gebracht“, vokal motiviert sein, und er ist es, wenn die Gliederung in einen syllabischen Vordersatz und Epilog (Kontra punkt 1 und 3 oder 3-4) und eine melismatische Fortspinnung (Kontra punkt 2 oder 2-3) dem Sinn (nicht der Syntax) des Textes gerecht wird: