6 Die Gebeine unö öie ßüöniffe Johann Sebaftian Bachs* Von Heinrich Besseler (Leipzig) * 1 Nach mündlicher Tradition befand sich Bachs Grab auf dem Friedhof der Johanniskirche: sechs Schritte geradeaus von der südlichen Kirchentür. An dieser Stelle ließ der Leipziger Anatom Wilhelm His im Oktober 1894 im Umkreis von etwa 40 Quadratmetern ausgraben. Er fand insgesamt nur 3 Gebeine in einem eichenen Sarg, wie er für Bachs Bestattung bezeugt ist. In seinem Bericht an den Rat der Stadt Leipzig bezeichnete His daher das Skelett eines älteren Mannes, dessen Schädel durch seine „sehr ausgepräg ten, keineswegs gewöhnlichen Formen“ auffiel, „mit hoher Wahrschein lichkeit“ als dasjenige Bachs. Maßgebend war dabei der Vergleich mit Bild nissen, hauptsächlich dem von Haußmann, und die Tatsache, daß der Bild hauer Carl Seffner mit Hilfe der von His entwickelten „Profilmethode“ eine charakteristisch-porträtähnliche Büste geschaffen hatte 2 . Von den Bildnissen Bachs weiß man heute mehr als 1895, so daß die Büste von Seffner nur in gewissen Grundzügen, nicht in ihren Einzelheiten anzu erkennen ist. Aber daß genau an der durch die Überlieferung bezeichneten Stelle: laut Situationsplan bei His 5 Meter südlich der Kirchentür, ein sol ches Skelett in einem eichenen Sarg gefunden wurde, überzeugt nach wie vor. In der heutigen Ausgrabungspraxis kennt man den Wert einer münd lichen Tradition, die zuverlässiger sein kann als Dokumente und Grab steine 3 . His war einer der führenden Mediziner, zu dessen 100. Geburtstag eine Ge denkschrift erschien 4 . Über seine Bedeutung unterrichten die Lexika, etwa der Große Brockhaus mit dem Artikel von 1931; auch in der Neuauflage von 1954 wird His ausführlich genannt. Seine Bach-Untersuchung von 1894/95 gilt heute noch als eine klassische Ausgrabungs- und Identifizie rungsarbeit. Inzwischen hat sich die Anthropologie zu einer eigenen Wis- * Anmerkung der Schriftleitung: Im vorliegenden Beitrag gibt der Autor eine durch neue Gesichtspunkte erweiterte Zusammenfassung seiner langjährigen Forschungen auf dem Gebiet der Bach-Ikonographie (vgl. die Literaturangaben in den Fußnoten 6, 8 und 10) sowie eine Grundlegung der von ihm angewandten Methode. 1 In Zusammenarbeit mit Bernhard Struck (Jena) und Johannes Jahn (Leipzig); vgl. S. 130, Fußnote 3 und S. 133, Fußnote 12. 2 Wilhelm His, /. S. Bach / Forschungen über dessen Grabstätte, Gebeine und Antlitz,j. Bericht an den Rat der Stadt Leipzig, Leipzig 1895. Wilhelm His, Anatomische Forschungen über J. S. Bachs Gebeine und Antlitzj, nebst Bemerkun gen über dessen Bilder. Abhd. der Kgl. Sachs. Ges. der Wissenschaften, Bd. 22, Nr. 5, S. 377fr., Leipzig 1895. 3 Der vorliegende Aufsatz beruht auf vielen Gesprächen mit dem Anthropologen der Universität Jena, Prof. Dr. Bernhard Struck. Ich bin ihm für seine Information zu be sonderem Dank verpflichtet, auch für Prüfung und Bestätigung dieses Manuskriptes vor dem Druck. 4 W. His, Wilhelm His der Anatom, ein Lebensbild, Berlin und Wien 1931.