Bach in der deutschen Dichtung 11 Bei den angeblich von Goethe Weihnachten 1818 auf Bachs Musik geschrie benen Versen „Laß mich hören, laß mich fühlen“, 35 die man im Bachjahr 1950 oft wiedergegeben fand, handelt es sich um eine inzwischen bewiesene raffinierte Fälschung, der wiederholt auch Kenner zum Opfer gefallen sind 36 . Trotz seiner bescheidenen Kenntnis vom Werk Bachs hat Goethe so wie Hoffmann und Keferstein gefühlt, daß in der Musik des Thomaskantors eine eigenständige Kraft lebendig wird, von der es am Schluß von Zelters Brief (8. Juni 1827) heißt: . . ist dieser Leipziger Cantor eine Erscheinung Gottes: klar, doch unerklärbar.“ 37 Ausgesprochene Bacherzählungen lassen sich bei Johann Peter Lyser, Elise Polko und Theodor Drobisch nachweisen. Während Drobisch in der Er zählung Sebastian Bach in Potsdam 38 die in Mizlers Nekrolog vom Jahre 1754 überlieferte, dann auch von Forkel in seiner Biographie 1802 vermutlich anekdotisch ausgeschmückte Darstellung der Begegnung mit Friedrich II. zugrundelegt, rücken in den Dichtungen Lysers und Polkos stärker die Söhne Bachs in den Vordergrund. L} T ser - mit bürgerlichem Namen Johann Peter Theodor Burmeister -, der bevorzugte Dichter für Schumanns Neue Zeitschrift für Musik, hat eine Un menge musikalisch-historischer Novellen verfaßt, ohne in jedem Fall mit seinen Urteilen den dargestellten Künstlern gerecht zu werden. 1836 er schien die Novelle in drei Teilen Sebastian Bach und seine Söhne 39 , die haupt sächlich das Schicksal Friedemanns behandelt. In seiner noch heute grund legenden Biographie weist Hirth 40 nach, daß der von 1803 bis 1870 lebende Dichter, Maler und Musiker, dessen Beethoven-Zeichnungen vor allem breiteren Kreisen bekannt sind, eine in jeder Beziehung zwiespältige Künst lernatur war, wozu seine Taubheit noch in besonderem Maße beitrug. Sel ten nur arbeitete Lyser mit Sorgfalt an seinen literarischen Werken, die sich dann, wenn es sich um historische Stoffe handelt, oft weit von der Wahrheit entfernen. Lysers Bach-Novelle ist ein Musterbeispiel dafür und gehört zum schlechtesten, was der Dichter überhaupt verfaßte. Friedemanns Liebe zur Nichte des Dresdener Ministers von Brühl steht im Mittelpunkt der ersten Erzählung. Auf Grund dieses Abenteuers verliert der älteste Bach-Sohn seine Organistenstelle und wird lediglich durch das Ein greifen von Faustina Hasse vor dem Kerker bewahrt. Nicht nur die Schil derung von J. S. Bachs Tod im 2. Teil steht in völligem Widerspruch zur geschichtlichen Wahrheit - und die hätte Lyser als vielseitiger Musik schriftsteller der bereits vorhandenen Bach-Literatur entnehmen können -, sondern auch Friedemann wird mit hinzuerfundenen Lebensumständen be- 3-1 Musica. Jg. 4. 1950, S. 253. Richtigstellung durch Smend, ebenda, S. 404—405. 36 Vgl. auch Smend, a. a. O., S. 31. 3 ‘ Der Briefwechsel syrischen Goethe und Zelter. Hrsg. v. M. Hecker. Leipzig 1915. Bd. 2, S.256. 38 In: Humoristischer Musik- und Theaterkalender auf das fahr 1J. Konnte nicht eingesehen werden. 39 Musikalische Novellen. Berlin 1913, S. 1—84. 40 Johann Peter Lyser. München und Leipzig 1911.