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Bach in der deutschen Dichtung IJ menen biographischen Verdrehungen ist Brachvogels Friedemann Bach vom musikgeschichtlichen Standpunkt aus in jeder Beziehung abzulehnen; nicht zuletzt eben deshalb, weil die weite Verbreitung des Werkes einem seit Jahrzehnten bestehenden falschen Bachbild erheblichen Vorschub ge leistet hat. Da der Verfasser nicht einmal das Bild der Zeit trifft, muß man sich fragen, welchen Sinn im Hinblick auf die kulturpolitische Verantwor tung eines Verlages die ständig erfolgenden Neuauflagen des Romans haben sollen, in dessen Anmerkungen, Vor- oder Nachworten dann nicht einmal Stellung zu den offensichtlichsten Fehlern des von Brachvogel vermittelten Bachbildes genommen wird 45 . Nicht nur Fa Ick 46 setzt sich in seiner Biographie mit den Bachverzerrungen auseinander, sondern in kritischen Besprechungen 47 des Romans ist wieder holt die große Gefahr aufgezeigt worden, die die weitere Verbreitung des Buches für ein der Realität entsprechendes Bachverstehen mit sich bringt. Erdichtet wurde nicht nur das Liebesverhältnis Friedemanns zu Antonie von Brühl, sondern auch dasjenige Sebastians, das sich zur Sängerin Astrua anläßlich seines Besuches bei Friedrich II. 1747 angebahnt haben soll. Die beiden Lieder - „Willst du dein Herz mir schenken“ und „Kein Hälmlein wächst auf Erden“ — sind keine Kompositionen Friedemanns, womit der Roman einer die einzelnen Episoden wesentlich zusammenhaltenden Klam mer verlustig geht. Johann Sebastian tritt in manchen Kapiteln stärker in den Vordergrund, etwa, wenn Brachvogel den vereitelten musikalischen Wettkampf mit Marchand oder Bachs Aufnahme in die „Sozietät der musi kalischen Wissenschaften“ schildert. Das, was der Thomaskantor in der wörtlichen Rede zu sagen hat, klingt oft unglaubwürdig und steht im Wider spruch zu den von seinen ersten Biographen überlieferten Wesenszügen. Wenn auch die in die Handlung mit einbezogene Beurteilung einzelner Kompositionen Friedemann Bachs abzulehnen ist, so gelang es Brachvogel auf diesem Wege doch, die Aufmerksamkeit wieder auf Werke des ältesten Bachsohnes zu lenken. Ernst Ortlepp, der 1864 starb, nachdem er immer tiefer ins Elend gesun ken war, soll bereits 1836 in Leipzig einen Roman Friedemann Bach geschrie ben haben. Das Buch gilt als verloren und ist seit Jahrzehnten auch in kei ner Bibliothek mehr nachzuweisen, so daß eine Gegenüberstellung mit dem Brachvogelschen Werk zwangsläufig entfallen muß. Die in Leipzig wirkende Elise Polko w T ar eine ungemein produktive Schriftstellerin, deren süßliche Belletristik völlig ungenießbar geworden ist. Ihre Musikalischen Märchen 48 , die 1852 erstmalig erschienen und bis 1890 ins gesamt 5 2 Auflagen erreichten, sollten „dem Bedürfnis der lesenden weib- io Gekürzte Neufassung von H. Lenz. Rudolstadt 1953. In dieser Ausgabe z. B. wird nicht mit einer Bemerkung auf das fehlerhafte Bachbild hingewiesen. 46 Wilhelm Friedemann Bach. Leipzig 1913. 47 Vgl. u. a. F. Müller, Ein Bach-Roman, der keiner ist. In: Das Orchester. Jg. 7. 1930, S. 109 bis 110. — O. Kroll, Bach gegen Marchand, ebenda, S. 190. 48 Alusikaliscbe Märchen, Phantasien undSkhgen. Leipzig 1922.