154 Conrad Freyse wir eingehen, weil sie das Bildtechnische berühren. Dazu gehören die Augen, die das Photobild mit erstaunlicher Klarheit wiedergibt. Man erkennt deut lich die Ungleichheit derselben. Der Vater hat die Asymmetrie der Augen seinem jüngsten Sohne vererbt. Wichtig ist ferner, daß Ambrosius auf dem Photobilde einen vorgeschobenen Unterkiefer erkennen läßt, den wir auch bei Sebastian finden. Ambrosius hatte demnach keinen Normalbiß, sondern einen Kopf biß (Zangenbiß); die unteren Schneidezähne bissen nicht hinter die oberen, sondern auf die obe ren. Es ist in Musikerkreisen auch heute noch bekannt, daß diese Ver anlagung für den Ansatz des Kesselmundstückes besonders günstig ist. Es kann nicht übersehen werden, daß dem Gesichtsausdruck auf dem Photo bilde die harmonische Einheit fehlt. Zwar drücken die gepreßten Lippen Energie und Selbstbewußtsein aus, aber der Blick der Augen will sich diesen Charakterzügen nicht recht anpassen. Wir fühlen, daß hier Widersprüche vorliegen, die nur als Folgen einer mangelhaften Pflege des Porträts zu er klären sind. Noch irreführender zeigt sich hier das restaurierte Gemälde. Der Schatten im rechten Mundwinkel, der auf Schnurrbarthaare schließen läßt, ist lediglich eine spätere Verdickung der Farbe. Das Photobild klärt darüber auf: das durch Abbröckeln der Farbe entstandene kleine Loch ist erkennbar. Man vergleiche die zart angedeuteten Haare auf der linken Ober lippe, um das Fehlerhafte zu erkennen. Auch die Schmalheit der Lippen fällt auf, besonders der Oberlippe, die für den Trompeter charakteristisch ist. Eine schwierige Frage stellt uns der Porträtierte mit der Pose seiner rechten Hand. Er stellt die drei Lebenslinien des rechten Handtellers in auffallender Weise in den Blickpunkt des Betrachters. Wer die semantischen Neigungen seines Sohnes Sebastian kennt, wird sich nicht über chiromantische Gedan kengänge des Vaters wundern, zumal die Barockzeit Gedankenspielereien dieser Art darzustellen liebte. Es wird angebracht sein, darauf hinzuweisen, daß alle alten Künstler, noch die Maler der Barockzeit, sich gern einer unsichtbaren Signatur bedienten 16 . Immer waren sie bestrebt, diese geheimen Autorenzeichen so versteckt an zubringen, daß der profane Betrachter sie nicht bemerkt. Daß auch unser Bach-Porträt solche Rätsel enthält, bezeugt das Photobild. Untersucht man mit einer starken Lupe den Wolkenhimmel, so entdeckt man in der linken Wolkenballung einen männlichen Kopf, von einer Mütze bedeckt, der auf einen weiblichen Kopf herabschaut. Das Geschaute ist so klar und deutlich, daß es nicht zu übersehen ist. Deshalb mußte es unsere Aufgabe sein, den Gedankengängen des Malers nachzuspüren. In der Absicht des Künstlers muß ein tieferer Sinn gelegen haben. Bleibt nur eine Enträtselung. Sie ist natürlich und glaubwürdig. In Form einer unsichtbaren Signatur hat der Bildschöpfer sein Konterfei dem Por trät beigegeben. Das Gesicht des Mannes läßt diese Vermutung rechtfertigen. 16 Vgl. Max Lautner, Unsichtbare Signaturen, Antiquitätin-Rimdschau, Eisenach 1924.