Hans-Martin Pleßke 18 hat über zehn Jahre an seinem Opus gearbeitet, das in vielen Abschnitten der gelebten Wirklichkeit entspricht. Zahlreichen Randbegebenheiten ist zu entnehmen, in wie breitem Umfange der Niederschrift dieses Buches ein Quellenstudium vorausgegangen sein muß. Es ist deshalb besonders zu be dauern, daß auch Kramer zur weiteren Verbreitung der Legende beiträgt, „Kein Hälmlein wächst auf Erden“ (S. 460) stamme von Friedemann Bach, obwohl nicht erst Martin Falck 65 diese Komposition als ein unechtes Werk bezeichnete. Greifen wir nur eine Szene aus dem Roman heraus, nämlich die der Begeg nung zwischen Bach und Friedrich II., des sich Näherkommens zweier Menschen, die ihre Zeit in so unterschiedlicher Weise prägten, dann wird offensichtlich, daß trotz der löblichen Bemühungen Kramers seine grund sätzliche Bach-Auffassung in mancher Hinsicht anfechtbar ist. Unter Bezug nahme auf die „regulierte Musik zu Ehren Gottes“ (S. 543) legt Sebastian sein angebliches künstlerisches Wollen in einem Gespräch dar, dessen Kern zugleich den Tenor des gesamten Buches bildet. Bach und die ihn umgeben den Gestalten werden kaum romantisiert. Es gelingt dem Autor, mit dich terischer Brillanz ein Lebensbild zu entwerfen, bei dem auch der Schaffens prozeß verbunden mit der Deutung einiger musikalischer Werke nicht zu kurz kommt. Wenn auch viele positive Momente diesen breit angelegten Bach-Roman auszeichnen, wird augenscheinlich, wie notwendig wir eine Dichtung brauchen, die den Anforderungen eines unverfälschten Bach- Bildes zu entsprechen beginnt. Darüber, daß die Kleine Chronik der Anna Magdalena Bach 66 , die um 1935 herum zu einem Bestseller in Deutschland wurde, die ungenannt bleibende englische Schriftstellerin Esther Meynell zur Autorin hat, ist seinerzeit in der Musikwelt lebhaft debattiert worden 67 . Trotz der bewußten Irre führung handelt es sich bei dieser Dichtung, die jahrelang auf dem Geburts tagstisch junger Mädchen zu finden war, weil — wie es auf dem Umschlag heißt - „das hohe Lied der deutschen Familie“ besungen wird, um eine an erkennenswerte Leistung, die der volkstümlichen Verbreitung Bachs nicht den schlechtesten Dienst erwies. Von Anna Magdalena, der zweiten Frau Bachs, sind so gut wie keine selbstbiographischen Zeugnisse überliefert 68 . Der Autorin ist es nicht nur gelungen, sich in den Geist des 18. Jahrhun derts überzeugend einzufühlen, sondern sie versteht es, dem Leser auch den Menschen Bach in seinem nicht immer erträglichen Alltag nahezubringen. Daß sich dabei Esther Meynell der Gefahr aussetzt, einzelne Szenen ein wenig zu überschwänglich zu formen, beeinträchtigt den Wert dieser Dich tung nur unerheblich. 65 a. a. O., S. 137. 66 Leipzig 1930. 67 Vgl. u. a. P. Riesenfeld in: Signale für die musikalische Welt. Jg. 89. 1931, S. 419—420. — S.D. Stirk in: Zeitschrift für Musik. Jg. 102. 1935, S. 1265 — 1266. 68 Vgl. Bach, Briefe, a. a. O., S. 205 — 210.