Bach in der deutschen Dichtung 45 Messe teilnimmt, um in dieser Stunde endlich eine lebensnotwendige Ent scheidung zu treffen. Der die Literatur des 20. Jahrhunderts so maßgeblich beeinflussende, 1958 verstorbene Dichter Johannes R. Becher hält in seinem Tagebuch über das Jahr 1950 230 verschiedene Ereignisse fest, denen zu entnehmen ist, daß Bachscher Musik seine besondere Zuneigung gehört. Ähnlich wie in seinen Bach-Gedichten kommt hier erneut zum Ausdruck, daß gerade die Musik unseres Helden geeignet ist, denjenigen, der ihr hingegeben lauscht, als Menschen guten Willens zu formen. Über das „berühmte“ Air notiert Becher: „Das ist .großes Rauschen 4 , und uns bleibt nur ein Beugen und Sich-Neigen... Von diesen Klängen tief ausgefüllt und wie bis ins Innerste durchtränkt... Sie müssen eine wunderbare Wirkung auf alle unsere Sinne haben... Denn das Menschliche, in seiner edelsten Ergriffenheit, die Welt, in ihrer vollendeten Harmonie, Seelengesang und Sphärenmusik gleicher maßen durchströmen uns - eine Art Bestrahlungstherapie oder elektrische Behandlung auf moralisch-geistigem Gebiet.“ 231 Auch Jochen Klepper, der 1942 mit seiner Familie infolge der unerträg lich gewordenen Bedrohungen aus dem Leben schied, hat über ein Jahr zehnt Tagebücher 232 geführt, in denen sich manche Aussage über Bach und sein Werk findet. Den Aufzeichnungen nach schrieb der Dichter für den Rundfunk zum Karfreitag 1933 eine Hörfolge Chronik der Familie Bach, die „wieder glatt hinausgegangen“ (S. 50) ist. Außer kurzen Hinweisen auf das Erleben Bachscher Kompositionen lesen wir am 26. April 1937: „Denn in Bach bin ich geborgen und gegründet wie in Luther; daran ist gar kein Zweifel. Matthäuspassion und Kunst der Fuge“ (S. 446). Unter allen Bachschen Kompositionen, die die Schriftsteller und Dichter stets von neuem bewegen, befindet sich vorrangig die Matthäuspassion. Hatte sich doch schon Karl Liebknecht aus dem Zuchthaus Luckau am 18. 3.1917 in einem Brief 233 an seinen Sohn zu diesem Werk, dem im Rah men der künstlerischen Entwicklung Bachs besondere Bedeutung zukommt, voller Enthusiasmus bekannt: „Ihr sollt die Matthäus-Passion hören - in klassischer Aufführung! Das wundervollste Werk auf dem Gebiet des Ora toriums. Die Noten hatte ich im Militärlazarett. Studiere sie vorher. Nicht ganz leicht zu verstehen - Kontrapunkt und Fuge. Gleich der erste Satz: achtstimmiger Chor nebst Cantus firmus -; durchblickt man das Zauber gewebe, ist man ganz berauscht vor Seligkeit. Nichts Süßeres, Zarteres, Rührerendes und in den Volksszenen - nichts Großartigeres kennt die Musik.“ Selbst der mehr und mehr dem Nihilismus verfallende Friedrich Nietz sche schreibt am 30.April 1870 aus Basel an Erwin Rhode: „In dieser 230 Auf andere Art so große Hoffnung. Berlin 1951. 231 Ebenda, S. 683—684. 232 Unter dem Schatten Deiner Flügel. Stuttgart 1956. 233 Briefe aus dem Felde, aus der Untersuchungshaft und aus dem Zuchthaus. Berlin 1919, S. 69—70.