46 Hans-Martin Pleßke Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion gehört, jedesmal mit demsel ben Gefühl der unermeßlichen Bewunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium“ 234 . Es ist daher nur zu verständlich, daß so wie Arnold Zweig auch andere Au toren unseres Jahrhunderts ihren dichterischen Beitrag zur Interpretation des Werkes leisten. Ernst Wiechert, dem Frau Musica stets ein verläß licher und treuer Weggefährte war, schenkt uns in seinen Erinnerungen und in verschiedenen Romanen wesentliche Bemerkungen über die Tonkunst 235 . Mit seiner Betrachtung Fünfhundert Schüler singen die Matthäuspassion™ 6 , die ein Königsberger Ereignis des Jahres 1929 würdigt, hält er die Erinnerung an einen echten „Feiertag der Kunst“ wach. Das Musikerleben Wiecherts spiegelt sich in seinem gesamten Werk wider. Bei der Einweihung des neuen Hauses im Dezember 1936 spielte Wilhelm Kempff, der zum Freundeskreis des Dichters zählte, „eine Bach-Kantate“ 237 . Im Hinblick auf Wiecherts Äußerungen über Bach sind zwei Episoden be sonders eindrucksvoll. Thomas von Orla lauscht im Einfachen Eeben oft den musikalischen Bekenntnissen Perneins am Flügel, und es ist ihm dann, als kläre sich des Grafen Gesicht beim Spiel von aller Bedrückung seines ge quälten Herzens. „Nein, ich verstehe Sie ganz gut, und Sie haben auch recht. Ich habe sogar ein reines Herz dabei, aber ein reines Herz ist noch kein fröhliches Herz . . . nun, lassen wir das. Ich habe immer das Gefühl, daß wir gar kein Recht haben, an solche Dinge einen Gedanken oder ein Wort zu wenden. Denn keiner von uns ist beispielsweise Johann Sebastian Bach. Er hatte ein Recht dazu, mit jeder Note danach zu suchen und fast mit jeder Note es zu verkünden. Deshalb spiele ich ihn auch nicht. Ich fürchte mich vor ihm.“ 238 Die andere Stelle begegnet uns in den Jerominkindern. Allabendlich liegt Friedrich Jeromin vor der Rohrhütte auf der Insel und bläst seine Flöte, „und aus dem Dunklen kamen die Töne wie die Stimme eines vergehenden Menschen“. Agricola, der selbst im Widerstreit mit seinem eigenen Leben steht, denkt beim Zuhören: „Bach hätte so schreiben können, ... in einer Kreuzesklage, als er schon blind geworden war und nur das andre sah, das Verborgene.“ 239 Dieser Pfarrer wird fortan nicht mehr glauben können, seit er das Flehen ohne Antwort auf der Flöte vernahm. Günter Weisenborn, dem wir das Spiel vom Thomaskantor verdanken, schreibt in der Vorrede zu Memorial - der Autobiographie über seine Kerker haft im faschistischen Deutschland: „Jeder Mensch findet rückschauend in seinem Leben bestimmte Augenblicke, in denen ihm Türen aufgingen, 234 In: Johann Sebastian Bach, heben und Schaffen, a. a. O., S. 274. 235 Vgl. H.-M. Pleßke, Der Zauber klang des Jenseits. Ernst Wiechert und die Musik. In: Musica. Jg. 8. 1954, S. 425-427. 236 Es geht ein Pflüger übers Eand. München 1951, S. 50—52. 237 Jahre und Zeiten. Erlenbach-Zürich 1949, S. 333. 238 Wien, München, Basel 195$, S. 121. 239 Zürich 1947, S. 153.