Bach in der deutschen Dichtung 47 wichtige Momente der inneren Biographie, die er nicht vergißt. Bei mir ging eine Türe auf, als ich zum erstenmal mit zwölf Jahren Bachs ,Chroma tische Fantasie und Fuge 1 hörte . . .“ 24 ° Auch dieser Schriftsteller hält eine Aufführung des Passionsdramas in der alten Berliner Garnisonkirche 241 für besonders erwähnenswert, gewiß der unerschütterlichen Zuversicht, daß es trotz innerer und äußerer Bedräng nisse etwas gibt, das der Menschheit nicht verlorengehen kann. Während das jeweilige Erleben einer Aufführung der Matthäuspassion in mehr oder weniger enthusiastischen Worten seinen Niederschlag findet, weil alle genannten Autoren davon überzeugt sind, einer unsterblichen Mu sik von einmaliger Schönheit begegnet zu sein, deren Aussagekraft Chri sten und Nichtchristen gleichermaßen bewegt, ist die Versenkung eines jungen Dichters in diese Komposition zwiespältiger Art. Als W'olfgang Borchert mit sechsundzwanzig Jahren im November 1947 starb, hinter ließ er ein literarisches Werk, in dem sich die tiefe Verzweiflung einer in den Abgrund geführten Generation widerspiegelt. Vor allem in seiner Prosa gestaltet er unerbittlich die kreatürliche Armut, Lebensangst und Niedergeschlagenheit der ersten Nachkriegsjahre. Sein in der Geschichte Die lange lange Straße lang 242 unüberhörbarer Aufschrei als Plungernder, der nicht in der Lage ist, eine Konzertkarte zu kaufen, läßt ihn zu einer Ein schätzung der Passions-Zuhörer gelangen, die zugleich davon kündet, wie es ihm als einem Getriebenen bis zum letzten Atemzug um die Sichtbar- n machung der Wunden der Zeit geht. T Der 1908 geborene Dichterpfarrer Albrecht Goes, jener Landsmann und einfühlsame Biograph Mörikes, zählt zu den markanten Persönlichkeiten der christlichen Dichtung unserer Tage. Schon 1937 schrieb er einen Essav Kommt, ihr Töchter . . , 243 , der der Matthäuspassion gewidmet ist. Dieser A Karfreitagnachmittag, das Einbezogensein in große Musik, verheißt dem einundzwanzigjährigen jungen Menschen ein wenig „Führung und Ge- td borgenheit“. Das, was Goes stets über Bach aussagt - und wie er es so glas- Id klar formuliert -, gehört mit zu den eindringlichsten Zeugnissen deutscher G Dichter über Wesen und Musik unseres Meisters. Und das ist das Erfreu- ail liehe bei Goes: auch in seiner Predigt 244 , die er auf dem 3 5. Deutschen Bach- isi fest in Stuttgart 1958 gehalten hat, zeichnet er keinen mystischen Kirchen- im musiker, kein weitabgewandtes Bachbild. Ganz im Gegenteil: er vergleicht iuß auch an anderer Stelle in einer Stunde des Besinnens Bachs Musik mit einem >13 großen hellen Raum, in dem drei Türen darin sind. „Die zweite Tür ist die ijT Tür in den Bereich der Tat. Vor uns ist der Tag, und er will Wirksamkeit; um mutige Entschlüsse - den Eifer des Mannes, die Sorgfalt der Frau. Dem I 0‘S «» Berlin 1948, S. 7. I 142 241 Ebenda, Absatz 107, S. 141 —142. v 21-2 242 An diesem Dienstag. Hamburg, Stuttgart 1948, S. 117. 1 e4S 243 Von Mensch ^u Mensch. Frankfurt a. M. 1952, S. 112—118. i 41-2 244 Ein überfließend Maß. In: Stunden mit Bach. Hamburg 1959, S. 26—36. — Auch enthalten ti in: Wagnis der Versöhnung, Leipzig 1959, S. 65 — 78.