64 William H. Scheide Sehr viel erfolgreicher ist JLB jedoch mit den Melodien seiner Arien, die, wenn sich zwei Stimmen in Terzenparallelen bewegen, bisweilen wie ein fache Volkslieder klingen. Daß sie oft auf Bibeltexte komponiert sind, macht sie um so wirkungsvoller. Die Beispiele 8 und 9 verdeutlichen das Ge sagte. Noch ein Wort zu den obligaten Instrumentalstimmen. Am liebsten be gleitet JLB die Singstimme entweder mit vollem Streichorchester oder mit Continuo. Gelegentlich tritt ein „Violino Solo“ auf. Bläser (Oboen oder Hörner) werden nur paarweise verwendet. In JLB 10 4 werden zwei Block flöten verlangt, obgleich die Kantate im übrigen nur mit 2 Oboen und Strei chern instrumentiert ist. Soweit ich weiß, ist dies der einzige Fall, in dem überhaupt Flöten auftreten. JLB hatte offenbar kein Ohr für die Ausdrucks möglichkeiten solistisch verwendeter Holzblasinstrumente. Darin unter scheidet er sich grundsätzlich von seinem Vetter Johann Sebastian, dessen Mühlhäuser Kantaten von 1707 bis 1708 schon die größte Vorliebe zeigen für Oboensoli (BWV 131), für Blockflötensoli (BWV 106), ganz zu schwei gen von dem Reichtum der Besetzung, wie sie in BWV 71 verlangt wird. Betrachten wir nun die Konsequenzen, die sich aus diesen Beobachtungen für die verlorene Osterkantate ergeben, und versuchen, unsere oben auf gestellte Liste mußmaßlicher Merkmale dieser Kantate dahingehend zu er weitern : 11. Mit größter Wahrscheinlichkeit hatten die ersten 4 Sätze der Kantate folgende Gestalt: 1. Komposition eines alttestamentlichen Textes. 2. Rezitativ. 3. Arie. 4. Komposition eines neutestamentlichen Textes. 12. Der Rest hatte vermutlich folgende Gestalt: 5. Arie. 6. Rezitativ. 7. Chor (vgl. Emanuels Brief: „in allen kommen Chöre vor“). 8. Choral (wahrscheinlich mit selbständigem Instrumentalpart). Möglicherweise war die Form von Satz 5 bis 7 jedoch ausgedehnter, weil a) der Dichter die Neigung hatte, an dieser Stelle mehrstrophige Dichtungen einzuführen, b) Johann Ludwig die Tendenz zeigt, seine Rezitativsätze in kurze Abschnitte, untermischt mit häufigen Ariosi, auf zugliedern. 13. Gut denkbar wäre es, daß die Kantate in Teil I und II aufgeteilt war. 14. Möglicherweise wurde die Kantate durch ein Ritornell eröffnet, das gegen Ende in mehr oder weniger freier Abwandlung wiederkehrte. 13. Die Ritornelle in JLB 5 und JLB 1/7 (Beispiel 2) deuten die Grenze an, bis zu der sich die kontrapunktische Anlage des erwarteten Ritornells bewegen dürfte. Eine Polyphonie, die darüber hinausging, wäre schwer vorstellbar.