Volltext Seite (XML)
Joh. Seb. Bachs Sammlung von Kantaten seines Vetters Johann Ludwig Bach 67 gängig auf Formen des Einzelgesangs, Arien und Recitativen und einem arienhaft gefaßten Chore“. Schließlich vermerkt er, daß sowohl B\W 15 als auch 31 mit dem Choral „Wenn mein Stündlein vorhanden ist“ schließen. Die erste eingehende Betrachtung erfährt unsere Kantate jedoch im ersten Band von Spittas Biographie. Sein geübtes Auge hatte erkannt, daß die autographe Partitur aus der Leipziger Zeit stammt; sie „zeigt auch durch die sichersten Merkmale, daß sie nach einer ganz vollendeten Vorlage ge fertigt ist“ 45 . Damit ergaben sich, die Echtheit des Werkes vorausgesetzt, zwei Fragen: A. Wann ist das Werk tatsächlich komponiert worden? und B. Warum wurde es später abgeschrieben? A. Wann ist die Kantate komponiert worden? Schon bei der Durchsicht der Kantate fiel Spitta das siebenstrophige Ge dicht auf, und er erklärte: „Es ist ganz das Verfahren der älteren Kirchen kantate. Man componirte damals, bis im 2. Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts eine andere Gestalt überall durchdrang, strophisch gebaute Lieder in den Formen, welche sich im Verlaufe des Jahrhunderts allmählig heraus gebildet hatten, und durchflocht sie nach Belieben mit Bibelsprüchen und Chorälen“ 46 . Deshalb glaubte er die Kantate nicht später als 1710 ansetzen zu können. Aber dann gedenkt er der Kantaten, die 1707 bis 1708 in Mühl hausen entstanden (BWV 71, 131): „Dort tritt uns schon ein Meister ent gegen, hier nur ein reichbegabter Schüler“ 47 . Folglich muß unsere Kantate in die Amstädter Zeit zurückverlegt werden, und da Bach 1706 vom Kon sistorium vorgeworfen wurde, er führe keine Kirchenmusik auf, setzte Spitta die Entstehungszeit von BWV 15 „mit ziemlichem Vertrauen“ auf Ostern 1704 (23. März) 48 . Aus seinen Ausführungen I, 789 läßt sich schlie ßen, daß Spitta der Ansicht war, Bach sei offenbar nicht rechtzeitig nach Wei mar gekommen, um an Ostern 1703 (8. April) schon eine solche Kantate aufzuführen. Auf diese Weise erwuchs unserer Kantate der einzigartige und außer ordentliche Ruhm, die erste aller von JSB komponierten Kantaten zu sein. Zahlreiche Verfasser haben ihren Stil in verschiedener Weise gewürdigt, 45 A. a. O. I, 790. 46 Ebenda, S. 226. 47 Ebenda, S. 792. Trotzdem wollen Spittas Ausführungen über die Einzelheiten der Kan taten nicht immer so recht an die „reichbegabten“ Qualitäten dieses „Schülers“ glau ben lassen. Zu Satz 1 stellt er fest: „Die Declamation ist. . . ziemlich steif und wirkungs los, auch die Behandlung der Baß-Stimme um nichts freier als bei seinen Vorgängern, welche oft so wenig mit ihr anzufangen wissen, daß sie einfach mit dem Grundbasse zusammen geführt wird, oder mit diesem in parallelen Terzen geht.“ Zu Satz 6 heißt es: „der Baß preist Christus den Sieger in ziemlich zopfiger Weise“, während sich Satz 9a „in keiner Weise über das erhebt, was man von den bessern Componisten in dieser Gattung gewohnt war“, und zum Schlußchoral meint er endlich: „Alles dies entbehrt der Originalität und ist nach bestimmten Vorbildern gearbeitet.“ Ebenda, S. 228 ff. 48 Ebenda, S. 227.