72 William H. Scheide über die offensichtliche Tatsache hinwegsehen, daß das Capriccio für Kla vier, obgleich es genau in der für BWV 15 angenommenen Zeit komponiert wurde, keine echte Verwandtschaft mit ihm zeigt, stattdessen aber mit über raschender Deutlichkeit auf die Mühlhausener Kantaten vorausweist. Diesen Schwierigkeiten wäre noch das Ergebnis der Kontroverse zwischen Jauernig und Müller in Bach in Thüringen hin2uzufügen, das den äußeren Umständen nach eine Entstehung von BWV 15 im Jahre 1703 in Weimar oder in Bachs Arnstädter Zeit mit größter Wahrscheinlichkeit ausschließt. B. Warum wurde die Kantate in Leipzig nochmals niedergeschrieben? Zur Klärung dieser Frage gibt Dürr einen nützlichen Hinweis 63 ; er stellt fest, daß mit Ausnahme des Osteroratoriums, also der Umarbeitung einer weltlichen Vorlage, keine der erhaltenen Osterkantaten in Leipzig kom poniert worden sind. Der ganze Nachdruck liegt hier auf den Passions aufführungen. Deshalb mußten Umarbeitungen und Wiederaufführungen früherer Werke für Ostern ausreichen. Aber Dürr bringt noch einen weiteren mutmaßlichen Grund für die neuer liche Niederschrift bei, nämlich eine Revision des Originals oder der Ori ginale 64 . Denn warum hätte Bach sonst nicht das ursprüngliche Auffüh rungsmaterial verwenden und sich die Arbeit des Abschreibens sparen können? Trotzdem gibt Dürr keine genauen Angaben, welche Gestalt das Werk in der verlorenen Quelle (oder in den verlorenen Quellen) gehabt haben mag. Er ist vorsichtiger als Spitta, dessen Rekonstruktionsversuch 65 schon von Wustmann 66 und Dürr 67 als unhaltbar verworfen worden war. Nun geht aber die ganze Frage nach einer verlorenen Urform von künst lichen und unwahrscheinlichen Voraussetzungen aus. Die ganze Umarbei tung müßte schon erledigt gewesen sein, bevor die uns erhaltene Nieder schrift angefertigt wurde. Denn, wie Spitta richtig sieht, zeigt sie „auch durch die sichersten Merkmale, daß sie nach einer ganz vollendeten Vor lage gefertigt ist“ 68 . Um seine Theorie aufrecht zu erhalten, muß Spitta erstens annehmen, daß BWV 15 teilweise in Arnstadt komponiert worden sei, zweitens, daß das übrige - und insbesondere das Rezitativ Nr. 2 - in Leipzig entstanden sei, „in dem sich Bach übrigens in meisterlicher Weise dem Jugendstile anzunähern gewußt hat“ 69 . Drittens wären, nimmt man Spitta beim Wort, die Arnstädter Urform und die Leipziger Zusätze zu einer „vollendeten Vorlage“ kombiniert worden, und endlich müßte diese „ganz vollendete Vorlage“ von Bach nochmals abgeschrieben worden sein, um so das vorliegende Autograph von BWV 15 entstehen zu lassen. 63 Studien, S. 61. 64 Ebenda, S. 30. 65 A. a. O., S. 226f. 66 R. Wustmann, Job. Seb. Bachs Kantatentexte, Leipzig 1913, S. 179 (zu Nr. 48). 67 Studien, S. 29. 68 A. a. O., S. 790. 69 Ebenda, S. 227.