"Eine solche Begleitung erfordert sehr tiefe Kunstkenntnis" - Neues und neu Gesichtetes zu Felix Mendelssohn Bartholdys Klavierbegleitung zu Sätzen aus Bachs Partiten für Violine solo, nebst einer Analyse der Begleitung zum Preludio in E-Dur (BWV 1006/1)
68 Anselm Hartinger den Arbeitsabläufen und Aufführungsvorbereitungen Mendelssohns am Leip ziger Gewandhaus verbunden werden. Insofern dürfte P 520 eine direkte Abschrift von Mendelssohns autographer Vorlage darstellen, die von David als Korrektiv für das Nachstudieren seines Parts herangezogen wurde. Das Fehlen praktischer Eintragungen muß keineswegs gegen diese Verwendung sprechen - entsprechende spieltechnische Folgerungen daraus hätten sich dann in Davids eigener Stimme beziehungsweise auswendig vorgetragener Interpretation niedergeschlagen. Die einzige wirkliche aufführungspraktische Zutat der Quelle sind zwei mit Rotstift eingetragene Kürzungsvermerke: da es sich dabei um besonders schwierige Violinstellen handelt, läßt sich eine Beziehung zu der genannten Studentenaufführung von 1844 nicht ganz von der Hand weisen. Mit der Handschrift P 520 haben wir zwar nicht das gesuchte Autograph Mendelssohns vor uns, dafür jedoch ein mit hoher Wahrscheinlichkeit äußerst zuverlässiges Abbild der „Ur-Chaconne“ von 1840/41. Damit unterstreicht die Existenz der von Moser erläuterten Quelle nachdrücklich unsere These, daß das musikalische Material der Begleitung nicht nur seit Herbst 1844, sondern von Anfang an schriftlich fixiert war und im Kreis um Mendelssohn, David und deren Schüler kursierte. Da die Berliner Handschrift nur sehr we nige, aber doch signifikante Unterschiede zur Druckfassung aufweist, 102 ihre Entstehung nach 1847 und damit ihre Abhängigkeit von der gedruckten Aus gabe aus den genannten Gründen aber äußerst unwahrscheinlich ist. können wir nun mit erheblich größerer Sicherheit davon ausgehen, daß die posthum verbreitete gedruckte Version das Klangbild der wegweisenden Aufführungen von 1840 und 1841 im Wesentlichen korrekt wiedergibt. 102 Einige Beispiele zur Art und (geringen) Anzahl der Abweichungen: So ist in Takt 9 (Buchstabe A im Druck) der d-Moll-Akkord der rechten Hand zu Beginn der Be gleitung in der Lesart von P 520 in Quintlage und vierstimmig gesetzt (in der Druckausgabe dreistimmig in Terzlage). In Takt 31 (7 Takte nach Buchstabe C im Druck) ist der erste Akkord der rechten Hand zweistimmig mit Verdoppelung des Basses (im Druck nur ein einzelnes d’). In Takt 49 (9 Takte nach Buchstabe D im Druck) steht der erste Akkord in hoher Terzlage (gedruckt in Oktavlage). Gelegent lich finden sich abweichende Bogensetzungen und zusätzliche „Sicherheitsakzi- dentien" (Takt 67 beziehungsweise 3. Takt nach F). Die Begleitung ab Takt 17 (Buchstabe B) arbeitet mit Doppelpunktierungen (Druckausgabe: einfach punk tiert). In Takt 56 (1 Takt vor E im Druck) fehlt in der Handschrift ein Pausenzeichen für die Mittelstimmen der rechten Hand und im folgenden Takt ..fehlt" gegenüber dem Druck das forte. Gesetzt die Annahme, die Abschrift sei doch nach dem Druck gefertigt: warum hätte ein so akkurater Kopist wie Henschke auf so engem Raum gleich zwei Fehler machen sollen? Es spricht also auch von dieser Seite aus alles dafür, daß die geringen Abweichungen der Druckfassung nach Anfertigung der Abschrift Henschkes - vermutlich tatsächlich in Vorbereitung des Druckes - vor genommen wurden.