130 Edgar Tincl über Seb. Bach. für richtig befundene Erkenntnis verbreitet, daß in der Kirche die Gcsangsmusik vorzuherrschen habe — eine Ansicht, in der Pius X. mit Rieh. Wagner übereinstimine — glaubt Tinel mit vollem Rechte eine Pflege der alten Vokalistcn, Palestri- nas und Genossen, empfehlen zu dürfen. Indessen sei damit kein Weg gefunden zur Gewinnung eines neuen Kirchenstileö, eines Stiles, der nach des Papstes Ausspruch „universell" genannt werden könne. Jene alten Meister schloffen eine ge schichtliche Periode von sechs Jahrhunderten ab; ihr Empfinden ist noch mittelalterlich und vermag, bei allergrößtem Respekt vor der Kunst an sich, uns nicht mehr überall zum Mit empfinden anzurcgen. Mit andern Worten: der Palestrina- stil gilt uns heute nicht mehr als der überall und allgemein verständliche Kirchenstil, auf dem die Zukunft weilerbauen kann. Was er zur Zeit der Kirchenreformation leistete, das leistet er heute nicht mehr. Tinel fahrt alsdann fort: „Wenn nun auch der musikalische Ausdruck des allgemeinen religiösen Gefühls nicht mehr identisch ist mit dem Stile Palc- strinas, so liegt doch wenigstens seine Quelle dort: die ge heiligte Quelle der Tradition. Die Kunst des 17. Jahrhunderts nahm alle die in der Luft liegenden Grundsätze auf, erweiterte sic und gab ihnen eine bis dahin ungeahnte Anwendung. Ein klares und natürliches tonales Gefühl schüttelte alsbald die leeren und schwankenden Wendungen deS mittelalterlichen Harmoniesystems ab, und Schlag auf Schlag eroberte sich die neue Kunst die Freiheit: die allmählich zu schwer gewordenen Fesseln wurden gebrochen, das Musikdrama entsteht, mit ihm der Jnstrumentalstil. Und aus der so fruchtbaren Ver einigung der menschlichen Stimme mit dem Orchester ging nun eine Reihe von neuen Begriffen hervor, die, so weit die religiöse Musik in Betracht kommt, ihren ersten vollkommenen Ausdruck in der Kirchenkantate fand, die ihrerseits wieder das geistliche Drama, die Passion, entstehen ließ. Hier kamen die Elemente des religiösen Stiles zur höchsten Ent faltung. Damals bemächtigte sich ein Meister dieser Elemente und schuf kraft seines allmächtigen Genies, wie eS aus ge heimnisvollen Kräften der Natur hcrvorging, jene erstaunlichen