Kritik. Ernst Kurth: Grundlagen dcS linearen Kontrapunkts. Ein führung in Stil und Technik von Bachs melodischer Poly- phonie. XII u. 525 Seiten, geb. Mk. 27 —. Verlag Aka demische Buchhandlung von Mar Drechsel, Bern 1917. Diese umfangreiche und ernste Arbeit muß, wie sie von drei Stand punkten aus unternommen ist, und sich ebcnsoviele Ziele steckt, auch drei fach beurteilt werden. Einmal will der Verfasser eine neue, oder doch eine verlieft begründete Theorie des gesamten musikalisch-künstlerischen Vorstellungsakres, de» die künstlerische Phantasie beim Produzieren voll zieht, skizzieren. Er stellt sich also die Aufgabe, die psychologischen Wurzeln des musikalischen Schaffens bloßzulegcn. Nach Befriedigung dieser funda mentalen theoretischen Ansprüche sucht der Verfasser das gewaltigste Künstler- Problem, Len Stil Bachs aus den zuvor entwickelten theoretischen Grund lagen zu bestimmen. Hier nimmt die streng künstlerisch-sachliche Einstellung auf das Thema sehr für den Verfasser ein. Ein Werk, das, wie das vor liegende, eine solche stilistische Aufgabe allein als musikalisch-ästhetische Angelegenheit auffaßr, berührt in einer Zeit sehr angenehm, die meist ge neigt ist, solche Stilfragen mir Hinweisen auf assoziative Vorgänge mehr oder weniger äußerlich und oberflächlich zu beantworten. Das Werk Kurths vermag aber weder seine Grundlagen noch seine Ziele zu erreichen. Er dringt weder bis zu jenen hei ab, mangels psychologischer Voraussetzungen, die unserer Musiktheorie überhaupt noch fehlen, und erfaßt ebensowenig die Eigenart des Bachschcn Stils, wohl vorwiegend mangels eines genügend starken inmitiv-künstlerischen Erlebens. Hier scheint mir die größere Schwäche des Verfassers seiner Niesenaufgal?e gegenüber zu liegen: er ist nicht genug Künstler seinem Stoffe gegenüber, ein Mangel, der den meisten kunstlheoretischen Arbeiten, nicht nur auf dem Gebieie der Musik, ihr Gepräge gibt. Das erste Thema des Buches lauter: Harmonielehre und Kontra punkt, oder harmonische (klangliche) und lineare, melodische Musikauffas sung. Der unleugbaren Vernachlässigung des Wertes der Melodie von heute tritt Kurth scharf entgegen, übertreibt aber, wenn er den Satz au'stellt: (S. 97) Harmonische und konrrapunktische Satzanlage sind von Grund auf Gegensätze, In jeder künstlerischen Satzanlage wirken tvnräumlichc (klangliche) wie rhythmische Ordnungsfakioren zusammen. Der Gegen satz: harmonischer und kontrapunkrischer Stil bezeichnet nur zwei ein seitige Formen ihrer künstlerischen Darstellung, wobei sich die Gegensätz lichkeit aber nie bis zur Ausschließlichkeit steigern kann. Wie es keinen harmowschen Satz ohne kvntrapunktisch-melodi'che Verpflichmnaen der Stimmen gibt, so ist ein vorwiegend kontrapunknsch-orientierter Satz stets an die tonalen Gesetze der Harmonik gebunden. Das gibt der Verfasser oft genug selber zu, kehrt aber dennoch immer wieder zu seiner Behauptung