Zur Motivbildung Bachs. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. Von vr. Ernst Kurth (Bern). Wo sich in einem Kunststil gewisse typische Formen heraus bilden, welchen man in verschiedenartigsten Werken und auch innerhalb eines Werks in mannigfachen Formteilcn immer wieder begegnen kann, deutet dies stets auf etwas Gemeinsames in den Energien der künstlerischen Gestaltungskraft, welche in solchen immer wiederkchrenden Einzelzügen nur ihre Auswirkung und sichtbaren Ausdruck finden. Je verschiedener daher die äußeren Zusammenhänge, in welchen solche Formen auftauchcn, desto größeres Interesse beansprucht die Frage gerade nach ihrem Zusammenhang untereinander; sie führt geradewegs von den Erscheinungen selbst, die im Kunstwerk zutage liegen, zu den Ursachen, von den Auödrucksformcn zu den Kräften des Aus- druckswillenö. Schon ein flüchtiger Blick auf die Linien der Polyphome Bachs zeigt, daß gewisse melodische Züge allenthalben, entweder unverändert oder in starken Annäherungsformen auftauchen, und man wird bald erkennen, daß dies nicht so sehr an der Wiederkehr gemeinsamer oder ähnlicher Hauptthemen selbst liegt, als im Aufscheinen gleichförmiger Züge, die den vielfachen breiten Entwicklungen und Fortspinnungen angehören, auS welchen ein musikalischer Satz sich entfaltet. Hat man aber einmal begonnen, diese Erscheinung näher ins Auge zu fassen, so kann man auch bald gewahr werden, in welch überraschen dem Maße sie über alle polyphonen Werke gebreitet ist, wie häufig und regelmäßig die gleichen typischen Linienzüge überall