Bach unö C>cr „lineare Kontrapunkt" Von Carl Dahlhaus (Kiel) I „Linearer Kontrapunkt“, die Formel, in die Ernst Kurth 1 Bachs Poly- phonie zu fassen versuchte, ist ein polemischer Begriff. Er ist, wenn auch durch Widerspruch, auf den Gegenbegriff des „harmonischen Kontra punkts“ bezogen. Wird er ohne Bewußtsein seiner kritischen Funktion ge braucht, so entstehen die Verzerrungen, die Kurth im Vorwort zur dritten Auflage der Grundlagen des linearen Kontrapunkts 2 auszugleichen versuchte. Die Mißverständnisse aber, die Kurth durch seine Formulierungen hervor ruft, kann man erst dann ausschließen und nicht nur umgehen, wenn man ihn genauer versteht, als er sich selbst verstand. Das Verfahren, Kurths Termini einer logischen Analyse zu unterwerfen, träfe ins Leere. Zwar ist es unverkennbar, daß sich Kurth in einen Wider spruch verwickelt, wenn er die Flarmonik einerseits als „Ergebnis“ der Kontrapunktik und andererseits als das „Negative“ interpretiert, das „hemmend“ der „melodischen Energie“ entgegenwirkt 3 . Das Charakteri stische und einer logischen Analyse Unzugängliche an Kurths Formulie rungen aber ist, daß sie weniger einen Gegenstand zu bestimmen als einen Zustand hervorzurufen suchen, in dem der Gegenstand andere als die ge wohnten Züge zeigt. Um die These vom „Primat“ der „melodischen Energie“ zu stützen, zitiert Kurth 4 die Takte 4-5 der Er-Dur-Fuge aus dem ersten Teil des Wohl temperierten Klaviers. „Das Primäre und die Hauptsache liegt, wie überall bei einer echten linear- kontrapunktischen Satzanlage, im linearen Bewegungszug, der in solchen Fällen auf die Zusammenklangserscheinungen hinwirkt, in den melodi schen Spannungen, nicht in den dissonanten Akkorden“ 5 . „Von dem 1 Grundlagen des linearen Kontrapunkts. Bachs melodische Polyphonie, Berlin 3 /i922. 2 S. XIV: „Nicht also Abschwächung der harmonischen Wirkungen ist gemeint, sondern ihre ergänzende Durchsetzung mit dem mehrstimmig-melodischen Element. Der lineare Kontra punkt wird dadurch selbst z« einem harmonischen, keinesfalls widersprechen sich beide, sondern sind gegenseitige Ergänzungen.“ 3 S. 440. 4 S. 380. 3 S. 387.