Ein dubioses „Menuetto con Trio di J. S. Bach“ Von Hans-Joachim Schulze (Leipzig) In seiner Gedenkschrift zum 200. Geburtstag des Bach-Schülers Johann Chri stian Kittel (1732-1809) nennt Albert Dreetz innerhalb der Bibliographie der Werke Kittels einen frühen Hofmeister-Druck, der neben zwei Choralvaria tionen Kittels als Anhang eine Fuge von Händel und ein Menuett von Joh. Seb. Bach enthält. 1 Seitens der Bach-Forschung blieb dieser Fingerzeig unbeachtet, so daß der erwähnte Druck 1955 erneut „entdeckt“ werden mußte. Es handelt sich um folgende Ausgabe: VARIATIONEN | über zwei Choraele I für die I Orgel 1 componirt I von | I. C. KITTEL. | (Als Anhang eine Fuge von Händel und Menuett von Seb. Bach.) \ Leipzig bei Friedrich Hofmeister. \ Pr 10 Gr. (Plattennummer:) SS6. 2 Nach Bruno Weigels Handbuch der Orgelliteratur 3 4 soll dieser Druck 1822 er schienen und durch Kittels Schüler Johann Christian Heinrich Rinck (1770 bis 1846) herausgegeben worden sein. Auf welchen Quellen die Ausgabe fußt, ist nirgends angegeben; Kittels Choralvariationen sind 1794 handschriftlich be zeugt/* können aber sehr wohl älter sein. Bei der Händel-Fuge handelt es sich um ein Klavierarrangement des schnellen Mittelteils aus der Ouvertüre zu der 1727 aufgeführten Oper „Riccardo I.“. Schüler Kittels war Rinck von 1786 bis 1789; in dieser Zeit könnte er Werke seines Lehrers sowie Bachs und Händels zum Geschenk oder zur Abschriftnahme erhalten haben. 5 Vielleicht ist es kein Zufall, daß die beiden Variationswerke Kittels auch in Abschrift von dessen Schüler Michael Gotthard Fischer (1773-1829) erhalten sind und Fischer be reits 1788 89 als Notenkopist nachgewiesen werden kann. 6 Ein größerer Teil von Rincks handschriftlichem Nachlaß gelangte über den amerikanischen Musik forscher Lowell Mason in die Library of the School of Music at Yale Univer- sity, New Haven, Connecticut (USA), 7 doch ließen sich dort keine einschlägi gen Spuren finden. Daß Susi Jeans sich 1955 entschloß, das fragliche „Bach“-Menuett erneut zu veröffentlichen, hatte seinen Grund weniger in der neuerlichen Auffindung des Druckes aus dem Jahre 1822 als in der Ermittlung einer Konkordanz: Die Fest stellung, daß jener a-Moll-Satz vielfältige Beziehungen zu einem 1770 gedruck- 1 A. Dreetz, Johann Christian Kittel, der letzte Bach-Schüler, Berlin 1952, S. 81. - Vgl. Repertoire International des Sonrces Musicales (RISM), Bd. A/I/5, K 860. Exem plare des Druckes befinden sich u. a. in Brüssel, Leipzig, London und Wien. Leipzig 1931, S. 95. Zur Datierung vgl. auch O. E. Deutsch, Musikverlagsnttmmern, 1. Aull. Berlin 1961, S. 15. 4 Dreetz, a. a. O., S. 85 u. 89. 0 Vgl. F.-W. Donat, Christian Heinrich Rinck und die Orgelmusik seiner Zeit, Disserta tion, Heidelberg 1935, S. IV f. u. 35. Den Druck von 1822 erwähnt Donat nicht. 6 NBA IV/;-6 Krit. Bericht, S. 211, sowie Y. Kobayashi, Franz Hauser und seine Bach- Handschriftensammlung, Dissertation, Göttingen 1975, S. 400. 7 Vgl. NBA IV/;-6 Krit. Bericht, S. 145 ff. u. 213 f.