Zur ßcöcutung Oer Fermaten in Bache Chorälen Von Johannes Krey (Jena) Johann Sebastian Bachs Choralkompositionen verwenden in der Regel die isometrische Form des Cantus firmus, wie sie sich im ausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert unter dem Einfluß der Tanzrhythmik herausgebildet hatte. Zu unterscheiden sind hierbei vor allem 2wei Typen von Bach sehen Choralkompositionen: 1. Choralbearbeitungen, bei denen die Begleitstimmen in anderer Technik und in anderen Notenwerten durchgeführt werden als die Cantus-firmus- Stimme. 2. Choralsätze, bei denen Melodiestimme und Begleitstimmen in der glei chen Bewegungseinheit verlaufen. Zu der ersten Gattung gehören vorwiegend solche Kompositionen, in denen das instrumentale Element überwiegt: die Orgel-Choralbearbei tungen und die vom Orchester begleiteten Eingangssätze der Choral kantaten. Die zweite Gattung umfaßt dagegen Stücke, für die der Vokal stil maßgebend ist: die schlichten Choralsätze innerhalb der Kantaten, Motetten und größeren Chorwerke. Bei der ersten Gruppe können hinsichtlich der Rhythmisierung der Choral melodie kaum noch Probleme für unsere Musikpraxis auftreten, da die gleichmäßig ablaufenden Begleitstimmen dem ganzen Satz einen festen rhythmischen Unterbau geben, zumal sie nicht nur die einzelnen Cantus- firmus-Abschnitte kontrapunktieren, sondern auch die zwischen zwei Choralzeilen auftretenden Pausen mit rational geordneter Bewegung er füllen. Anders ist es bei den schlichten Choralsätzen. Hier verlaufen die Stimmen grundsätzlich in gleichen Notenwerten und enden am Schluß jeder Noten zeile in einer Fermate. Ausgehend von der musikalischen Praxis des 19. Jahr hunderts, die in der Fermate stets ein Dehnungszeichen erblickte, faßte man auch die Fermaten in Bachs Chorälen durchweg als Verlängerungszeichen auf, die dem Schlußton jeder Choralzeile — oder der dem Zeilenende folgen den Pause — unbestimmte Dauer verleihen. Obwohl schon frühzeitig von musikwissenschaftlicher Seite gegen diese Auffassung Einspruch erhoben wurde 1 , hat sich der Brauch des Zerdehnens von Choralmelodien an jedem Zeilenende doch bis in unsere Tage erhalten — besonders auch an der Tradi tionsstätte der Leipziger Thomaskirche. Im vorliegenden Aufsatz soll des wegen erneut versucht werden, Anhaltspunkte für die Ausführung der Fer maten in Bachs schlichten Choralsätzen zu finden. Ähnlich wie uns die Tabulaturen des 15. und 16. Jahrhunderts Aufschluß geben über Rhythmik und Akzidenzien der intavolierten Ensemblemusik, 1 Vgl. Albert Schweitzer, J.5.Bach, 1908, bes. S. 778; Rudolf Wustmann, VomKhyth- mus des evangelischen Chorals, BJ1910, S.86—102, bes. S. 100/101; und Konrad Ameln, Die Fermate im evangelischen Kirchenlied. In: Musik und Kirche, III, 3, 1931, S.102—112.