Noch einmal: Die Violinfonate ßWViO£4 Von Ulrich Siegele (Tübingen) Die Sonata ä Violino solo e Basso per il Cembalo in c-Moll (BWV1024), welche in einer Handschrift der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden sowie in einer Handschrift der Gräflich von Schönbornschen Musikbibliothek in Wiesentheid ohne Nennung des Komponisten überliefert ist, wurde zum erstenmal 1872 von Ferdinand David in seiner Hohen Schule des Violin- spiels nach der Dresdener Quelle veröffentlicht; die Zuweisung an Johann Sebastian Bach erfolgte durch die Bemerkung: „Das Manuskript ist ohne Autor-Namen, nach einstimmigem Urteil bewährter Kenner kann aber über den Autor kein Zweifel sein.“ 1 In der Literatur scheint danach die Sonate nicht weiter beachtet worden zu sein; insbesondere nahmen weder Spitta noch die Herausgeber der Ausgabe der Bachgesellschaft Notiz davon. Durch die Aufnahme in das Bach-Werke-Verzeichnis erhielt die Sonate eine ge wisse Legitimation. 1955 legte Rolf van Leyden eine neue Ausgabe vor, welche sich auf beide Quellen stützt und mit Vorwort wie Revisionsbericht versehen ist; Alfred Dürr widmete ihr eine Besprechung. 2 Die im Vorwort der Ausgabe gedrängt dargelegten Ansichten zu Überlieferung und Echt heit der Sonate führte Rolf van Leyden in einer Studie aus, die im Bach- Jahrbuch 1955 erschienen ist. 3 Er kommt auf Grund einer stilkritischen Untersuchung des Werkes zu dem Ergebnis, daß für die ersten drei Sätze — abgesehen von gewissen Verderbnissen des Textes, vor allem am Schluß des zweiten Satzes — die Autorschaft Johann Sebastian Bachs aus dessen Weimarer Zeit in Anspruch genommen werden dürfe; beim vierten Satz handle es sich vermutlich um eine von Bach in Köthen überarbeitete und von ihm den anderen Sätzen angefügte Komposition unbekannten Ur sprungs. Wenn auf den folgenden Seiten die Sonate noch einmal behandelt wird, so nicht deshalb, weil es gelungen wäre, van Leydens Forderung zu erfüllen und neue, das Gegenteil überzeugend erweisende philologische Unterlagen aufzufinden, wohl aber deshalb, weil die vorhandenen diplo matischen und stilistischen Gegebenheiten eine andere Deutung zuzulassen und sogar zu verlangen scheinen. Die beiden Handschriften der Sonate werden auf zwei Bibliotheken ver wahrt, deren eine nur in losem, deren andere in gar keinem Zusammenhang mit der Überlieferung J. S. Bachscher Werke steht. Wiesentheid ist über haupt erst durch die Abschrift der r-Moll-Sonate in das Blickfeld der Bach forschung getreten, Dresden bietet insgesamt drei Quellen: die Stimmen zu 1 Ferdinand David, Die Hohe Schule des Violinspiels, Werke berühmter Meister des 17. und 18. Jahrhunderts für Violine und Pianoforte, Leipzig: Breitkopf & Härtel, in der Neuen revidierten Ausgabe von Henri Petri Nr. 10, Bd.II, S. 28—43. 2 J. S. Bach, Sonate c-moll für Violine und Generalbaß (BWV1024), Nach den Quellen brsg. v. Rolf van Heyden, Basel/München: Emst Reinhardt Verlag AG [1955]; Besprechung von Alfred Dürr in Mf 9 (1956) 367—368. 3 Rolfvan Leyden, Die Violinsonate BWV 1024, BJ 1955, S. 73 — 102.