Verftümmclt überlieferte Arien aus Kantaten J. S. Bachs Von Alfred Dürr (Göttingen) Als vor einigen Jahren die Neuausgabe der Kantate 166 „Wo gehest du hin“ im Rahmen der Neuen Bach-Ausgabe (im folgenden: NBA) vorberei tet und dazu die Arie „Ich will an den Himmel denken“ in ihrer bisher ver öffentlichten Form mit dem Orgeltrio BWV 5 84 verglichen wurde, ergab sich überraschenderweise, daß beide Stücke sich gleichsam ineinander- schachteln ließen, wobei dann eine Tenor-Arie mit zwei (statt bisher einem) obligaten Instrumenten entstand. Die im Kritischen Bericht I/12 der NBA angestellten Überlegungen führten zu dem Schluß, daß aus dem nur in Gestalt der Originalstimmen (und deren Abschriften) überlieferten Quellen material u. a. eine Violino-I-Stimme abgetrennt worden war und daß diese Stimme einen Solopart für die genannte Arie enthalten haben muß. Diese Feststellung gibt zu denken. Die Frage erhebt sich, ob wir nicht öfter als bisher angenommen einen Satz Bachscher Komposition in unvoll ständiger Besetzung überliefert erhalten haben. Ausgeschlossen ist das eigentlich nur dann, wenn uns Partitur und Stimmen einschließlich aller Dubletten erhalten sind. Fehlen die Stimmen, so gibt die Partitur allein oft nur ein recht unvollständiges Bild der Besetzung, da sie die Verstärkung einer Stimme durch mehrere unisono geführte Instrumente häufig über haupt nicht oder nicht vollständig angibt; ist dagegen die Partitur ver schollen, so bietet uns das erhaltene Stimmenmaterial erst recht keinen sicheren Beweis für seine Vollständigkeit. Einige wahllos herausgegriffene Beispiele mögen den erstgenannten Fall (Partitur enthält nicht die volle Besetzung) illustrieren: Die Cantus-firmus-Verstärkung einer gesungenen Melodie durch mit gehende Instrumente (z. B. Corno) in Choralchorsätzen ist meist nicht vermerkt (z. B. in Kantate 62 - vgl. NBA I/i), auch in motettischen Kantatenchorsätzen ist das Mitgehen von Instrumenten mit den Sing stimmen in der Partitur oft nicht angegeben (z. B. in Kantate 144 - vgl. NBA I/7). Kantate 36: Die Verstärkung der Singstimmen durch Oboi d'amore zu Satz 2 wird von der Partitur nicht mitgeteilt (vgl. NBA I/i). Kantate 128: Die Partitur sieht keine Mitwirkung von Rohrblattinstru menten vor und weist die Obligatstimme des Satzes 4 der Orgel zu (vgl. NBAI/12). Weihnachts-Oratorium, Teil II: Die Partitur sieht keine Mitwirkung von Flöten vor und läßt die Frage nach der Besetzung der Obligatpartie zur Arie „Frohe Hirten, eilt, ach eilet“ (Satz 15) unbeantwortet (die jetzt vorhandene Besetzungsangabe ist Zusatz von späterer Hand); ursprüng lich mag Bach an eine Oboe gedacht haben (vgl. NBA II/6 und die Fak simile-Ausgabe der Partitur, Kassel, Basel, London, New York i960).