5° Bernhard Stockmann Die dominantische Fliehkraft erreicht einen höheren Grad, wenn der Pause eine zweite Dissonanz mit anderer Funktion folgt. Das vielleicht extremste Zeugnis hierfür ist die Orgelfuge C-Dur (BWV 547). In Takt 67 wird die Wechseldominante in Gestalt des verminderten Septakkordes nicht, wie zu erwarten, in den G-Dur-Dreiklang geführt, sondern nach der Pause steht unvermittelt der verminderte Septakkord der Dominante. Nach der nun folgenden Pause erscheinen wieder die verminderten Septakkorde als erste und zweite Dominanten. Bach ist hier so weit gegangen, die Zwischen dominante und Dominante nicht in die Dreiklänge zu leiten, auf die sich jene beziehen, hier G-Dur und r-Moll, oder eine trugschlußartige Lösung zu versuchen, vielmehr spart er den geforderten Akkord einfach aus. In der ersten Pause wäre der G-Dur-, in der zweiten der f-Moll-Dreiklang zu denken. Der Dreiklang, der nach der Zwischendominante zu stehen hätte, hier G-Dur, ist sowohl Dominante (im Hinblick auf die Haupttonart) als auch Tonika (im Hinblick auf die Zwischendominante). Der Komponist hat den durch die Zwischendominante bereits tonikalisierten Dreiklang um gangen und statt dessen hochgradig dissonierende, rein dominantische Klänge nebeneinander gestellt und ihren Spannungsreichtum durch die Pausen vermehrt. Diese in dem konstruktiven Bau strengste Orgelfuge Bachs hat in der bedrohten Tonalität zugleich ihren Höhepunkt erreicht. Um so machtvoller kann danach das C-Dur durchbrechen und über die dreifache Engführung das Werk beschließen. Anders gesagt: Die Architek tonik hat den Ausdruckswert gebunden und diesem erst seine formale Festigkeit verliehen. Hierin liegt auch der eigentliche Gegensatz zu der Musik des Frühbarock, den Madrigalen eines Marenzio, Monteverdi und da Venosa. - Im D-Dur-Präludium aus dem ersten Teil des Wohltemperier ten Klaviers steht in Takt 30 der zehnstimmig gesetzte verminderte Sept akkord der Wechseldominante, dem die Einstimmigkeit folgt, die über H-Dur nach ö'-Moll und wieder zurück nach H-Dur weist. Es erscheinen danach, in enger Lage und durch Pausen getrennt, die achtstimmigen ver minderten Septakkorde zu t/-Moll und H-Dur. Diese Dissonanzen, bei denen schon die verhältnismäßig hohe Lage auffällt, sind mehr farblich ausgerichtet und basieren weniger auf einem funktionellen, d. h. wechsel seitigen Verhältnis, wie auch eine deutliche Baßbezogenheit beiden Akkorden fehlt. Erst in der zweiten Takthälfte (Takt 31), wo über den Vorhalt d" der Dominantseptakkord erscheint, wird eine kadenzierende Kraft spürbar. Die vorhergehenden Dissonanzen werden hingegen eher farblich, d. h. isoliert, als tonlich, d. h. weiterleitend, gehört. Dies ist auch daran zu ersehen, daß Bach die Gesetze der Stimmführung nahezu völlig außer acht gelassen hat. Frei einsetzende Dissonanzen gehören ebenfalls zu den Eigenheiten des Bachschen Stils. Wird die Dissonanz von der Einstimmigkeit aus erreicht 11 , 11 Es ist zu unterscheiden, ob die einstimmige Linie den Akkord ganz bzw. teilweise vor gibt oder unabhängig von diesem in ihn mündet. Die erste Art dient der Reihung, die zweite der Entwicklung.