Über das Dissonanzverständnis Bachs 55 Stufe mühelos aus der Einstimmigkeit gewonnen, weil der Pedalbaß sofort mit einer „Scheinstimme“ anhebt 13 . In dem Andante der r-Moll-Partita (BWV 826) bricht der vierstimmige verminderte Septakkord auf Cis (Takt 21) nicht unvermittelt herein, da sich in der vorhergehenden Zweistim- migkeit im Baß eine dritte Stimme verbirgt 14 . Ein noch nicht eingehend untersuchtes Phänomen wurde bereits sichtbar: das Verhältnis von Harmonik zu Takt und Metrum. Es ist bekannt, daß in der Musik des 19. Jahrhunderts, etwa in derjenigen Wagners, der met rische Impuls zugunsten des harmonischen Ausdruckswillens zurücktritt, ja fast amorph anmutet, denn eine extrem harmonische Satzstruktur mit dominantisch dissonierenden Spannungen verdrängt die periodischen Qualitäten. Jedoch erscheint Bach selbst hier als Wegbereiter des 19. Jahr hunderts. In der Schlußsteigerung der F-Dur-Toccata (BWV 540) türmt er jeweils auf dem letzten Achtel der Takte 402-404 und 412-416 einen fünfstimmigen Dominantseptakkord auf, mit der Absicht, die natürlichen Taktqualitäten auszulöschen und an ihre Stelle ein dominantisches Cres cendo zu setzen. Der Hörer vermutet, daß nach der i9taktigen Sequenz über dem Orgelpunkt der Dominante und der kurzen Ausweichung nach C-Dur (Takt 422) die Schritte F-E-F endlich, als eindeutige Kadenz, das Werk beschließen müßten. Bach treibt aber die Spannung mit dem trugschluß artigen Ausweichen in die Dominante der Neapolitanischen Tonart: dem Sekundakkord auf Ces noch einmal zu einer nicht mehr zu überbietenden Höhe empor 15 . Dieses Werk wurde auch deshalb hier besprochen, weil in jüngster Zeit Ulrich Siegele 16 geäußert hat, daß die Neapolitanische Wen dung in der Passacaglia (BWV 582) „kaum weniger eindrucksvoll“ sei. Bach geht hier jedoch nur bis zum Neapolitanischen Dreiklang (Sext akkord), aber nicht in die dissonierende Dominante desselben. In der Passacaglia festigt dieser Akkord mit dem oberen Leitton Des die Kadenz. Der Wendung wohnt ein retardierendes Moment inne, das dem erst genannten Werk abgeht. Beide Kompositionen können gar nicht mitein ander verglichen werden. In der E-Dur-Toccata hingegen ist die Tonalität 13 Da die Tenorstimme, ähnlich dem Baß, „scheinstimmig“ geführt wird, könnte dieser Dominante sogar die Sechsstimmigkeit zuerkannt werden. 14 Wenn man die Stimmigkeit eines Werkes berücksichtigt, so ist hiermit das Problem der Dynamik noch keineswegs erschöpfend Umrissen, da sogar die einstimmige Linie von einer inneren Dynamik getragen wird. Es wäre auch darauf hinzuweisen, daß es bei Bach das ausinstrumentierte Crescendo gibt, wie etwa in dem „Gratias agimus“ der A-Moll-Messe, wo ab Takt 42 - der Hörer glaubt schon, es käme gleichsam nichts mehr — die erste Trompete dem Tenor und Alt folgt. 15 Ohne Frage ist diese Stelle im Bachschen Schaffen ohne Beispiel. Es wäre vielleicht aus der Musik des 19. Jahrhunderts auf die große C-Dur-Sinfonie von Schubert hinzu weisen. Die lang ausgeführte Stretta des ersten Satzes mündet nicht in der Schluß fermate, vielmehr wird der Hörer mit dem plötzlich hereinbrechenden Thema der Ein leitung, das nicht zum Sonatensatz gehört, jetzt aber in der bis dahin sorgsam auf gesparten dynamischen Kraft des vollen Orchesters erscheint, wachgerufen. 16 Noch einmal die Violinsonate B WV1024, BJ 1956.